Neuro-Depesche 12/2005

MS: Von der Pathologie für die Klinik lernen

Lange Zeit galten entzündliche demyelinisierende Plaques in der weißen Substanz als einziges pathologisches Substrat der Multiplen Sklerose (MS). In den letzten Jahren wurde immer klarer, dass sie nur einen Teil des Schadenspektrums im ZNS darstellen. Demyelinisierung der grauen Substanz und diffuse Veränderungen der normal erscheinenden weißen Substanz scheinen entscheidend zur klinischen Progredienz beizutragen.

Demyelinisierte Plaques in der weißen Substanz können die klinischen Symptome der MS-Patienten nur teilweise erklären. In einer Autopsie-Studie wurden daher mit Fokus auf den Kortex und die normal erscheinende weiße Substanz (Normal Appearing White Matter, NAWM) die Hirne von 51 MS-Patienten und 15 Kontrollen verglichen. Elf Patienten mit schubförmiger MS befanden sich im akuten Schub, sechs im schubfreien Zustand, 20 hatten einen sekundär-progredienten und 14 einen primär-progredienten Verlaufstyp. Neue, aktive fokale MS-Läsionen in der weißen Substanz fanden sich signifikant häufiger bei Patienten mit schubförmiger MS. In den Hirnen von Patienten mit primär und sekundär progredienter MS fanden sich dagegen signifikant häufiger diffuse Veränderungen der NAWM. Einzelbefunde waren insbesondere eine Mikroglia-Aktivierung, entzündliche Infiltrate, axonale Sphäroide sowie eine kortikale Demyelinisierung in Groß- und Kleinhirn. Dabei ergab sich nur eine marginale Korrelation zwischen der fokalen Läsionslast und den diffusen Veränderungen der weißen Substanz bzw. den kortikalen Veränderungen. Im MS-Gehirn laufen also teilweise unabhängig voneinander drei verschiedene pathologische Prozesse ab: Fokale Plaque-Bildung in der weißen Substanz, kortikale Demyelinisierung und diffuse Veränderungen der weißen Substanz. Alle werden durch Entzündungsprozesse angestoßen, wie H. Lassmann vom Zentrum für Hirnforschung der Universität Wien ausführte. Entzündungsschübe erreichen das Gehirn über die durchlässige gewordene Bluthirnschranke und führen zu neu entstehenden Plaques der weißen Substanz. Kortikale Schäden und diffuse Veränderungen der NAWM entwickeln sich dagegen auf der Basis eines Entzündungsprozesses, der das gesamte Hirn und die Meningen erfasst und hinter einer (wieder) funktionierenden Bluthirnschranke kompartimentalisiert abläuft und "gefangen" bleibt. Dass auch die graue Substanz vom Krankheitsprozess der MS betroffen ist, zeigt eine Turiner Autopsie-Studie. In Kortex, Thalamus, Basalganglien und Hippokampus wurden demyelinisierte Läsionen gefunden. Insgesamt waren durschnittlich 14% des gesamten Kortex demyelinisiert. Im Gyrus cingulus und im Temporallappen war dieser Prozess besonders ausgeprägt. Mehr als 90% der Läsionen beschränkten sich auf die äußeren Kortex-Schichten. Bei Patienten mit extensiver Demyelinisierung zeigte die graue Substanz eine im Vergleich zu gesundem Kortexgewebe um 18-23% verminderte neuronale Dichte. Dieser Neuronenverlust wird vermutlich durch apoptotische Prozesse verursacht. Der Verlust von Myelin und Neuronen in der grauen Substanz, insbesondere in limbischen temporalen Regionen und im Hippokampus könnte eine wichtige Rolle bei den bereits früh im Krankheitsprozess auftretenden kognitiven Dysfunktionen der MS-Patienten spielen, vermuten die Autoren dieser Studie. Quantitative bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass die Hirnatrophie bei MS-Patienten im zeitlichen Verlauf sechs- bis zehnmal so schnell wächst wie bei gesunden Kontrollen, sogar in frühesten Stadien der Erkrankung. Fokale Entmarkungsherde, wie sie sich als T2-Hyperintensitäten und T1-Hypointensitäten darstellen, machen am Atrophieprozess einen Anteil von 30 bis 50% aus. Um diffuse Gewebeschäden abzubilden, wurden neue Kernspin-Techniken wie die Magnetisations-Transfer-MRT und das Diffusions-Tensor-Imaging entwickelt. Mit derartigen Verfahren lässt sich u. a. zeigen, dass die Atrophierate bei schubförmiger und sekundär-progredienter MS insgesamt vergleichbar ist, bei schubförmigem Verlaufstyp aber mehr graue als weiße Substanz den atrophischen Veränderungen unterliegt. Eine besonders ausgeprägte Atrophie der grauen Substanz in Putamen, Kaudatum, Thalamus, Kortex und auch infratentorial fand eine britische Arbeitsgruppe mit einer optimierten Voxel-basierten morphometrischen Methode bei 31 Patienten mit primär progredienter MS nicht mehr als fünf Jahre nach Beginn der Symptome. Offenbar sind diese Regionen besonders anfällig für die Neurodegeneration, auch bereits im Frühstadium. Die Analyse der Atrophie bringt zusätzliche klinische Informationen zu denen der Standard-MRT-Untersuchung, denn das Ausmaß der Atrophie korreliert mehr als die herkömmlichen MRT-Kriterien mit dem Behinderungsgrad der Patienten. Die Atrophie-Beeinflussung wird daher auch in klinischen Studien zunehmend als Erfolgskriterium für die Therapie eingesetzt. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die Atrophie durch die Therapie mit Immunmodulatoren gebremst werden kann. Allerdings bedürfen noch einige Beobachtungen der Klärung: Anfangs nimmt die Atrophierate häufig zu, möglicherweise eine Reaktion auf die antientzündlichen Effekte. (AB)

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