Segen, oder doch eher Fluch?

Neuro-Depesche 12/2015

AMNoG-Auswirkungen auf die Neurologie

Das erklärte Ziel des Arzneimittelneuordnungsgesetzes (AMNOG) von 2011 ist die Senkung der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Kassen. Dies führt sehr häufig zu Entscheidungen, die in der Fachwelt äußerst umstritten sind: In 135 Beschlüssen attestierte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bei der frühen Nutzenbewertung nur 64 einen erheblichen, beträchtlichen oder zumindest geringen Zusatznutzen. Von der Quote von 47,4% kann die Neurologie nur träumen: Hier erhielten von acht Medikamenten nur zwei (25%) einen (geringen) Zusatznutzent, wurde auf einem DGN-Symposium berichtet.

Gerade die Definition der geforderten zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) ist ein Problem. Laut Prof. Hajo M. Hamer ist diese bei der individuellen Therapie der Epilepsie gar nicht festzulegen, insbesondere angesichts der therapierefraktären Patienten. Dennoch wurde bei der Prüfung von Retigabin als ZVT das Erstlinienmedikament Lamotrigin bestimmt. „Dies geht diametral an der Wirklichkeit vorbei“, konstatierte Hamer. Vorgesehen war als Add-on dann noch Topiramat, das Hamers Andeutungen zufolge vermutlich vor allem wegen seines geringen Festbetrags einbezogen wurde. Fazit: Zusatznutzen nicht belegt. Beim Verfahren des neuen Antiepileptikums Perampanel definierte der G-BA zwar mehrere ZVT, es war aber von vorneherein klar, dass es dazu keine entsprechenden Studien gebe, so Hamer. Trotz „fehlenden Zusatznutzens“ scheint sich das Präparat langsam durchzusetzen. In Deutschland gelten bis zu 150 000 Epilepsie-Kranke als therapierefraktär.
Wie Prof. Sven Meuth, Münster, ausführte, ist bei der MS ein erheblicher Zusatznutzen eines Wirkstoffs gar nicht möglich. Dafür wird nämlich eine Heilung oder deutliche Lebensverlängerung gefordert. Dass die Einführung oraler MS-Therapien z. B. angesichts von Arbeitsunfähigkeit aufgrund grippeähnlicher Nebenwirkungen unter Interferonen oder Spritzenphobien nicht funktioniert, wird vom G-BA nicht berücksichtigt, sagte Meuth auf der DGN-Veranstaltung.
Die Probleme räumt Dr. Wiebke Löbker vom G-BA durchaus ein. Viele resultieren aus den unterschiedlichen Vorgaben für die Zulassung einerseits und die Nutzenbewertung andererseits. So prüft die EMA Wirksamkeit und Sicherheit einer Substanz insbesondere anhand einer Placebokontrolle. Ein Zusatznutzen gegenüber etablierten Therapien lässt sich so natürlich nicht belegen. Die Zulassungsstudien sind häufig weder darauf ausgelegt noch lang genug, um die geforderten patientenorientierten Endpunkte – Mortalität, Morbidität, Nebenwirkungen, Lebensqualität – dazustellen. So wird ein Zusatznutzen oft schlicht aus formalen Gründen verweigert. Löbker hofft auf die Lernfähigkeit des Systems, andere setzen auf die Medikamentenverfügbarkeit per Internet und Reimporte.
Für die Pharmaunternehmen bedeutet die Praxis von G-BA (und IQWiG) am Ende einen Erstattungspreis, der Entwicklungskosten und Unternehmensrisiken nicht adäquat abbildet. So wurden – nachdem der G-BA keinen Zusatznutzen konstatiert hatte – bereits 15 (wohlgemerkt, nach umfangreicher klinischer Prüfung zugelassene) neue Arzneimittel vom jeweiligen Unternehmen vom Markt genommen. Es besteht die Gefahr, dass die Unternehmen sich auch aus der Forschung zurückziehen. Damit werden den Patienten hierzulande potenziell innovative Behandlungsmöglichkeiten regelhaft vorenthalten – offenbar gerade im Bereich ZNS. Jüngstes Beispiel ist ein Parkinson-Medikament. FK/JL
Quelle:

DGN-Minisymposium: „AMNOG in der Neurologie – Fluch oder Segen?“, 25.09.2015, 88. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Düsseldorf

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