Aus Sicht von PD Michael A. Überall, Nürnberg, Kongresspräsident und Vizepräsident der DGS, belegt der internationale Kongresstag die grenzübergreifende Bedeutung von Schmerzen.
NSAR bei Osteoarthritis?
Jenseits von Cannabis: Die seit langem geltende Leitlinienempfehlung zum vorrangigen Einsatz nicht-steroidaler Antirheumatika (NSAR) bei Patienten mit Osteoarthritis sollte Überall zufolge überdacht werden. Erkenntnisse zur Pathophysiologie und Daten zur Langzeitversorgung belegen, „dass NSAR zwar die akuten Symptome vorübergehend lindern können, sie aber letztlich den Krankheitsverlauf, vor allem das Fortschreiten der Gelenkdestruktion, beschleunigen können“. Angesichts der zentralen Rolle proinflammatorischer Zytokine bei osteoarthritischen Prozessen „erscheinen neue therapeutische Ansätze wie kombinierte Enzympräparate sinnvoll“, da sie bei vergleichbarer Wirksamkeit deutlich besser verträglich sind und darüber hinaus den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen können.
Cannabis: Fester Platz in der Schmerztherapie
Eine „Lanze für die Cannabinoide in der Schmerztherapie brechen“ will Angelika Hilker, Bochum. Das Endocannabinoidsystem (ECS) stellt einen wirkunsvollen Puffer für die zentrale Stressantwort dar. Es ist ein zentraler Modulator und Regulator vieler neuronaler Systeme und Regelkreise. Außer bei der MS-bedingten Spastik werden Cannabinoide mit Evidenzgrad A (DGS) bei chronischem und neuropathischem Schmerz sowie bei Tumor- und Nicht-Tumor-bedingtem Schmerz eingesetzt. Für alle anderen Indikationen liegt nur ein geringerer Evidenzgrad vor, z. B. Grad B beim Fibromyalgiesyndrom. Hochwertige randomisierte kontrollierte Studien sind immer noch rar, doch eine Metaanalyse von 2021 (Wang et al.) von 32 RCTs ergab für Cannabionide Wirkungen auf den Schmerz, die körperlichen Funktionen und den Schlaf mit bis zu mittlerer Evidenz, so Hilker. „Nicht zuletzt haben wir ja sehr positive Rückmeldungen unserer Patienten“, betonte sie den Erfahrungsaspekt. Daneben hob die Schmerztherapeutin hervor, dass sich Benzodiazepine, Antikonvulsiva und vor allem Analgetika wie die nebenwirkungsreichen Opioide durch Cannabinoide massiv einsparen lassen. In einer kanadischen Studie (n = 1.145) sank die Opioidmenge um 78 %, in einer deutschen Studie von 2023 (n = 178) um 50 %.
Cannabinoide in der Palliativmedizin
Die Frage, ob Cannabinoide in der Palliativmedizin unerlässlich sind, versuchte Prof. Roman Rolke, Aachen, zu klären. Für Indikationen jenseits von Schmerz ist die Studienevidenz noch geringer. Palliativ-Patienten leiden, wie Daten des Hospiz- und Palliativ-Registers zeigen, oft unter mehreren teils unspezifischen Symptomen wie Schwäche (86 %), Appetitmangel (68 %), Müdigkeit (67 %), Anspannung (34 %), Angst (68 %) etc. Wenn Cannabinoide viele dieser Symptome gleichzeitig bessern können, ist das ein wichtiger Schritt „um von der Polypharmazie wegzukommen“, betonte Rolke, „gerade bei Älteren“. In der Begleiterhebung des BfarM zeigte sich unter Cannabinoiden u. a. eine Besserung der Lebensqualität in 70 % der Fälle. Das ist, so Rolke, „unser Therapieziel in der Palliativversorgung, wenn es nicht mehr um die Heilung geht und die Lebensqualität im Mittelpunkt steht“.
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat am 16. März 2023 die Detailregelungen beschlossen, die zukünftig bei der ärztlichen Verordnung von medizinischem Cannabis als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung gelten. Mehr dazu unter www.g-ba.de. Der Beschluss tritt in Kraft, wenn das Bundesministerium für Gesundheit ihn rechtlich nicht beanstandet und der G-BA ihn im Bundesanzeiger veröffentlicht hat.
HL