Umbrella-Review

Neuro-Depesche 10/2022

Zweifel an der Serotonin-Hypothese

Selbst nach jahrzehntelanger Forschung existieren keine eindeutigen Beweise für eine maßgebliche Rolle von Serotonin bei der Entstehung von Depressionen. Zu dieser Erkenntnis gelangte eine britische Arbeitsgruppe des University College London mit Hilfe eines bereichsübergreifenden „Umbrella-Reviews“. Dieser Überblick über die vorhandenen Metaanalysen und systematischen Übersichten deutet darauf hin, dass Depressionen wohl nicht durch ein chemisches Ungleichgewicht entstehen.
Die am häufigsten verordneten SSRI sollen die bei einer Depression postulierten pathologisch verringerten Serotonin-Spiegel normalisieren Weitere anerkannte pharmakologische Mechanismen der SSRI existieren nicht.
Die Autoren unternahmen eine rigorose Literaturrecherche zu den Begriffen Serotonin, Serotonin-Metabolite, 5-HIAA, Serotonin-5-HT1A-Rezeptor-Bindung, Serotonin-Transporter (SERT)-Spiegel und SERT-Genassoziationen bzw. -Gen-Umwelt-Interaktionen sowie Tryptophan-Depletion. In ihr Umbrella-Review wurden 17 Studien eingeschlossen, darunter 12 systematische Reviews mit Metaanalyse.
 
Keine wissenschaftliche Basis
Zwei Metaanalysen zum Serotonin-Metaboliten 5-HIAA (die größte mit 1.002 Teilnehmern) zeigte keinen Zusammenhang mit Depressionen. Dies war auch in einer Metaanalyse von Kohortenstudien (n = 1869) zu den Serotonin-Konzentrationen im Plasma der Fall. Hier fanden sich Hinweise, dass die Antidepressiva-Einnahme sogar mit (kompensatorisch) verringerten Serotonin-Konzentrationen assoziiert war. Zwei Metaanalysen zum 5-HT1A-Rezeptor (die größte mit 561 Teilnehmern) und drei Metaanalysen (die größte mit 1.845 Teilnehmern) zeigten schwache bzw. widersprüchliche Hinweise auf eine reduzierte SERT-Bindung, die eher für eine erhöhte synaptische Serotonin-Verfügbarkeit bei Depressiven spricht. Eine Metaanalyse von 2007 und mehrere neuere Studien sprechen außerdem dagegen, dass die Reduktion des Serotonin-Spiegels durch Tryptophan-Depletion wirklich Depressionen induziert.
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Serotonin-Hypothese keine wissenschaftliche Grundlage hat, räumen aber ein, dass sich die postulierte Wirkung von SSRI nicht ausschließen lässt. GS
Kommentar
Die Serotonin-kritschen Autoren regen an, dass sich die Depressionsforschung besser auf die Bewältigung von Stress oder traumatischen Ereignissen, z. B. durch Psychotherapie, Bewegung, Acht- samkeitsübungen etc. und der Behandlung auslösender Faktoren wie Armut, Stress und Einsamkeit konzentrieren sollte. Derzeit untersuchen sie, wie sich die Einnahme von Antidepressiva am besten schrittweise beenden lässt.
Quelle: Moncrieff J et al.: The serotonin theory of depression: a systematic umbrella review of the evidence. Mol Psychiatry 2022 (https://doi.org/10.1038/s41380-022-01661-0)
ICD-Codes: F32.9
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