70th Annual Meeting der AAN, 21.– 27. April 2018 in Los Angeles

Neuro-Depesche 5-6/2018

Wichtige Therapiefortschritte erzielt

Das 70th Annual Meeting der American Academy of Neurology (AAN) in Los Angeles besuchten rund 14 000 Teilnehmer. Das wahrlich „prall gefüllte“ Programm umfasste alle relevanten neurologischen Krankheiten, darunter Epilepsie, Demenz, Migräne, Multiple Sklerose und Bewegungsstörungen.
Hier eine kleine Auswahl an Themen, wie sie u. a. auf der AAN-Pressekonferenz, der Clinical Trials Plenary und Emerging Science Session hervorgehoben wurden.
 
ASO: Durchbruch bei Morbus Huntington?
 
Sarah J. Trabitzi stellte die Daten zur Wirksamkeit von IONIS-HTTRx bei Patienten in einem frühen Stadium des Morbus Huntington vor. Das auf die Huntingtin (HTT)-mRNA wirkende, intrathekal injiziierte antisense Oligonucleotide (ASO) verringerte in einer Phase-I/ IIa-Studie bei 34 Patienten die Spiegel des pathologischen mHTT-Proteins im Liquor vs. Placebo (n = 12) signifikant − am stärksten in der höchsten Dosis von 120 mg. Die Senkung um 40% bis 60% liegt auf dem Niveau der (Tiermodellen zufolge) als krankheitsmodifizierend angesehenen Spanne von 30%-50%. Die verschiedenen als sekundäre exploratische Endpunkte erfassten klinischen Effekte korrelierten mit den mHTT-Senkungen, erreichten aber an Tag 85 gegenüber Baseline keine Signifikanz, wengleich Trabitzi dafür post hoc einige „positive Signale“ sah. Sie vermutet, dass die Behandlung dafür länger anhalten müsste. IONIS- HTTRx war in allen Dosen gut verträglich.
 
Ubrogepant gegen akute Migräne-Attacken wirksam
 
Ubrogepant ist kein gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) gerichteter Antikörper, sondern ein ‚Small molecule‘, das über seine Bindung am CGRP-Rezeptor die CGRP-Wirkung antagonisiert. In der AAN-Pressekonferenz hervorgehoben wurde, dass Ubrogepant in der Phase-III-Studie ACHIEVE I bei Patienten mit einer akuten Migräneattacke gegenüber Placebo (n = 456) unter 50 mg (n = 423) und 100 mg (n = 448) beide primäre Wirksamkeitsendpunkte erreichte: Der Anteil an Patienten mit Schmerzfreiheit nach zwei Stunden betrug 19,2% bzw. 21% versus 12% unter Placebo. Die Überlegenheit betraf auch die Abwesenheit der typischen Migräne-Begleitsymptome wie Photophobie, Phonophobie und Übelkeit (38,6% bzw. 397,7% vs. 27,8% der Patienten unter Placebo) und weitere sekundäre Endpunkte. Die Verträglichkeit war generell gut, vor allem wurde keine gehäufte Inzidenz starker Leberenzymanstiege beobachtet. Wie Joel M. Trugman betonte, ergaben sich keine Signale für eine relevante Hepatotoxizität. Leberschädigungen hatten in der Vergangenheit die „Karriere“ anderer ‚Gepants‘ beendet.
 
Demenz: 36-Monatsdaten zu Aducanumab
 
Der Antikörper Aducanumab wurde in der randomisierten, Placebo-kontrollierten Phase- Ib-Studie PRIME über 12 Monate bei Patienten mit einer prodromalen oder leichten Alzheimer- Erkrankung eingesetzt. Wie Samantha Budd Haeberlein auf der Platform Session S2 anhand der open-label-Extension-Daten über 24 Monate erläuterte, setzen sich bei den 112 verbliebenen Patienten der Fixdosis-Gruppen (3, 6 oder 10 mg/kg KG) die Abnahmen der Amyloid-Plaques in den PET-Scans in zeit- und dosisabhängiger Art fort. Auch die nach 12 Monaten von Placebo auf Aducanumab umgestellten Patienten proftierten darin signifikant. Die Veränderungen der klinischen Parameter wie dem Clinical Dementia Rating − Sum of Boxes (CDR-SB) und dem MMST deuten ebenfalls auf einen anhaltenden Nutzen hin. Die häufigsten Nebenwirkungen in der Extension (≥ 15%) umfassten Stürze, Kopfschmerz und Amyloid Related Imaging Abnormalities (ARIA)- E, d. h. ein vasogenes Ödem bzw. extravasale Flüssigkeit. ARIA-E war auch die häufigste schwere Nebenwirkung (n = 5; 4%). Diese Daten unterstützen die weitere klinische Erprobung des Wirkstoffs in den Phase-III-Studien ENGAGE und EMERGE.
 
Neu bei Narkolepsie-Patienten: Solriamfetol
 
Der selektive, niedrig potente Dopamin-Noradrenalin Wiederaufnahmehemmer Solriamfetol hat sich einer Phase-III-Studie bei 239 Erwachsenen mit Narkolepsie Typ 1 (mit Kataplexie) oder Typ 2 Placebo überlegen gezeigt. In den beiden Gruppen mit den höheren der drei Dosierungen (150 mg und 300 mg) hatte sich die Einschlaflatenz im Maintenance of Wakefulness Test (MWT) nach 12-wöchiger Behandlung mit einer Abnahme um 12,3 bzw. 9,8 Min. signifikant stärker gebessert als unter Placebo mit 2,1 Min. Zusätzlich war die Tagesmüdigkeit nach der Epworth Sleepiness Scale (ESS) unter Solriamfetol mit einem Rückgang der ESS-Werte um 6,4 bzw. 5,4 Punkte deutlich geringer als in der Placebogruppe (-1,6 Punkte). Ein Patient entwickelte ein schweres unerwünschtes Ereignis (nicht-kardialer Brustschmerz und Angst), das aber wohl nicht Medikations- bezogen war.
 
NfL-Blutspiegel korrelieren mit MS-Verlauf
 
Wie Jens Kuhle, Basel, auf der Platform Session S24 berichtete, korrelieren hohe Serumkonzentrationen des Neurofilament light chain (NfL), einem Marker für axonalen Schaden und Neuronenverlust, mit MS-Schwere und dem klinischen bzw. radiologischen Langzeit- Outcome. Dies ergaben die gepoolt ausgewerteten Daten der Studien FREEDOMS und TRANSFORMS zur Behandlung der RRMS mit Fingolimod und ihrer Verlängerungen (n = 324). Nach 96 Monaten war die Wahrscheinlichkeit eines ersten Schubes bei NfL-Butspiegeln > 60 pg/ml gegenüber niedrigen Werten (< 30 pg/ml) deutlich erhöht (Hazard Ratio: 2,20; p < 0,0007). Die nach 48 Monaten signifikante Beziehung zwischen hohen NfL-Werten und der Behinderungszumahme bzw. der Konversion in eine sekundär-progressive MS (SPMS) war jetzt immerhin noch tendenziell (HR: 1,52; p = 0,2123 bzw. HR: 2,06; p =0,1575). Schließlich präsentierte der Experte Langzeitdaten, nach denen die NfL-Werte bei kontinuierlicher Therapie signifikant abgenommen hatten: von 28,6 zu Baseline auf 18,4 pg/ml nach 10 Jahren. Somit könnten, so Kuhle, die NfL-Blutspiegel als prognostischer Langzeit- Marker für den MS-Verlauf dienen.
 
Orales Medikament gegen Spinale Muskelatrophie (SMA)
 
Das oral als Lösung einzunehmende RG7916 ist ein ‚Small molecule‘, das sich im ZNS und peripher verteilt und auf mRNA-Ebene − ähnlich wie das bereits zugelassene Nusinersen − in das Splicing des SMN2-Gens eingreift. Dadurch wird das bei spinaler Muskelatrophie (SMA) erheblich reduzierte SMN-Protein gebildet. In der offenen exploratorischen Studie FIREFISH erhielten 21 Kinder mit SMA Typ 1 im Alter von 1 bis 7 Monaten jeden Tag RG7916, berichtete Giovanni Baranello auf der Emerging Science Session. Die durchschnittliche Exposition lag bei knapp sechs Monaten. Nach vier Wochen wurde ein dosisabhängiger Anstieg der SMN-Protein-Blutkonzentrationen festgestellt. Unter der höchsten Dosis lag er gegenüber dem Baseline-Wert bei dem 6,5-Fachen. Bei keinem Kind wurde die Therapie nebenwirkungsbedingt beendet. RG7916 wird derzeit zusätzlich in den beiden Studien SUNFISH und JEWELFISH klinisch geprüft. Die FDA hat dem Wirkstoff den ‚Orphan drug‘-Status zuerkannt.
 
Nusinersen auch langzeitwirksam
 
Eine Interimsanalyse der Studie SHINE, die offene Verlängerung der ENDEAR-Studie, zeigt, dass Nusinersen bei Kindern mit SMA (n = 81) auch auch über mehr als zwei Jahre wirksam und sicher bleibt, berichtete Diana Castro auf der Emerging Science Platform Session. Dies zeigen u. a. der Gesamtwert der HINE-2-Skala zum Erreichen wichtiger motorischer Meilensteine und die allgemeinen motorischen Funktionen nach den CHOP-INTEND- Scores. Bei den in ENDEAR scheinbehandelten und erst mit Eintritt in SHINE Nusinersen erhaltenden Patienten (n = 24) kam es nach diesen Skalen ebenfalls zu signifikanten Besserungen. Daraus schließt Castro, dass Nusinersen auch bei späterem Behandlungsbeginn wirksam ist − wenngleich bei einer Frühbehandlung größere Effekte erreicht werden können. So betrug der mediane Zeitraum bis zur Beatmung oder Tod bei den kontinuierlich behandelten Kindern 73 Wochen, bei den umgestellten Kindern aber nur 22,6 Wochen.
 
Erster MGLL-Hemmer: Erfolge bei Tourette-Syndrom
 
Das endogene Cannabinoid 2-Arachidonylglycerol (2-AG) entfaltet an den endogenen Cannabinoid- Rezeptoren (CBR 1 und 2) agonistische Wirkungen. Die 2-AG wird durch die Monoacylglycerol-Lipase (MGLL) abgebaut. ABX-1431 ist ein selektiver potenter MGLL-Inhibitor. An der Medizinischen Hochschule Hannover führte die Gabe von ABX-1431 (20 mg) als Add on bei Erwachsenen mit mittelschwerem Tourette-Syndrom (TS) zu signifikanten Effekten auf mehrere TS-Schlüsselparameter: U. a. kam es zu einer signifikanten Reduktion des Total Tic Scores (TTS) der Yale Global Tic Severity Scale (YGTSS) und der Tic- Zahl und -Schwere im Patientenurteil sowie zu einer Besserung im Score der Skala Clinician Global Impression (CGI). Dabei war ABX-1431 gut verträglich und sicher. Häufigste unerwünschte Ereignisse (UE) bestanden in Kopfschmerz, Somnolenz und Fatigue, es traten keine schweren UE auf. Mit der MGLL-Hemmung handelt es um einen neuen Therapieansatz, der auch bei anderen Krankheitsbildern wirksam sein könnte, in die das Cannabinoid- System involviert ist.
 
‚Wearable‘ bei essentiellem Tremor
 
Ein neues, etwa armbanduhrgroßes Gerät stimuliert nach Bedarf (per An-Aus-Schalter) über zwei Elektroden transdermal den Nervus medianus und radialis. In einem Emerging Science Poster zeigt u. a. eine Studie (n = 61), dass der essentielle Tremor (ET) der Patienten nach der Tremor Research Group Essential Tremor Rating Assessment Scale (TETRAS) durch die periphere Neuromodulation signifikant zurückging und sich die Alltagsaktivtäten (ADL) der ET-Patienten deutlich verbesserten.
 
Myasthenia gravis klar gebessert
 
Bei 24 Patienten mit Myasthenia gravis (MG) wurden die Spiegel an allen und den pathologischen IgG-Antikörpern durch vier (einmal wöchentliche) Infusionen des Fc-Fragments ARGX-113 (Efgartigimod) in einer Phase- II-Studie rasch und signifikant verringert. Damit korrelierend kam es, so James F. Howard, nach allen vier Wirksamkeitsskalen (MG-ADL, QMG, MGC and MG-QoL-15r) zu einer schnellen und anhaltenden klinischen Besserung. U. a. respondierten nach dem MGADL- Score 75% der Behandelten (Placebo: 25%). Unter dem generell gut vertragenen ARGX-113 traten keine schweren UE auf.
 
See you ...
 
Weitere Highlights vom AAN 2018, insbesondere zur Therapie der MS, werden in der nächsten Ausgabe der Neuro-Depesche berichtet. Der nächste, der 71. AAN-Kongress wird übrigens vom 4. bis 10. Mai 2019 in Philadelphia stattfinden. JL
ICD-Codes: F95.2 , G12.0 , G25.- , G43.9 , G47.4 , G70.0

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