Nicht-kompatible Auffassungen

Neuro-Depesche 9/2021

‚White paper‘ des KKNMS versus DGN-LL

Die am 28. Juni 2021 publizierte S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) ist nicht nur auf Zustimmung gestoßen. In einem „Leserbrief“ kritisiert die Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG), die selbst ein „Positionspapier zur verlaufsmodifizierenden Therapie der Multiplen Sklerose 2021 (White Paper)“ verfasst hat, etliche zentrale Aussagen der Leitlinienautoren.
Nachdem die MSTKG-Autoren voranstellen, dass die Leitlinie der DGN viele unstrittig richtige und hilfreiche Empfehlungen enthält, werden einige Aspekte als kritisch angesehen und Gegenargumente vorgebracht. Hier einige wichtige Punkte.
 
Verzögerter Therapiebeginn
Die MSTKG-Autoren kritisieren, dass die Definion der MS-Aktivität in der DGN-Leitlinie in Teilen inadäquat ist – und in ihren therapeutischen Konsequenzen den Empfehlungen etablierter nationaler, europäischer und internationaler Konsensusempfehlungen widerspricht. Vor allem sollen höheraktive Therapien erst nach einer Beobachtungsdauer von mehr als zwei Jahren eingesetzt werden bzw. wenn Patienten bereits eine Behinderung entwickelt haben. Dies steht in eklatantem Gegensatz zur Verhinderung der Behinderungsakkumulation und neurodegenerativer Veränderungen als ein wesentliches Ziel der modernen MS-Therapie. So kann es nach Ansicht der MSTKG bei Patienten in Phasen hoher Krankheitsaktivität durchaus erforderlich sein, eine Therapie früher zu optimieren.
 
Eskalationsansatz zu eindeutig favorisiert
Nicht einverstanden ist die MSTKG, dass in den DGN-Leitlinien zwar beide grundsätzlichen Möglichkeiten des therapeutischen Vorgehens genannt werden, aber der Eskalationsstrategie (Beginn mit einem niedrigpotenten und erst danach Einsatz höherpotenter MS-Medikamente) gegenüber einer Therapieinitiierung mit höherpotenten MS-Mitteln zu eindeutig favorisiert wird.
 
Weitere Kritikpunkte
Weitere von der MSTKG kritisierten Aspekte der DGN-Leitlinien betreffen u. a. das therapeutische Vorgehen bei klinisch isoliertem Syndrom (KIS), die nicht fundierte Dreiteilung in niedrig-, mittel- und hochpotente Medikamente (mit Auswirkungen auf den Therapiealgorithmus), die Haltung zu kontinuierlichen vs. gepulsten Therapien und die Ausführungen zum (Off-label-)Einsatz von Rituximab.
Weitere Ausführungen sind der Publikation sowie den DGN-Leitlinien (verfügbar auf www.dgn.org) und dem MSTKG-Positionspapier (verfügbar unter https://link.springer.com/article/10.1007/s00115-021-01157-2) zu entnehmen. JL
Fazit
In der Neuro-Depesche werden in aller Regel Publikationen aus der internationalen Fachpresse referiert. Die funda- mentalen Unterschiede in den DGN-Leitlinien und dem MSTKG-Positionspapier rechtfertigen eine Ausnahme.
Quelle: Wiendl H et al.: Kommentar der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) zur S2k-Leitlinie Multiple Sklerose. DGNeurologie 2021; 4 (4): 319-26

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