Verwirrung nach der Anschlagsserie in Deutschland

Neuro-Depesche 7-8/2016

Terror, Amok oder psychische Krankheit?

Axt-Attacke in der Regionalbahn, Suizidattentat auf Musikfest, zehn Erschossene im Einkaufszentrum – in den Medien wird kaum mehr zwischen psychischen Erkrankungen und religiös-fanatisch motivierter Gewalt unterschieden – mit der Gefahr, dass psychisch Kranke als potenzielle Gewalttäter unter Generalverdacht gestellt werden. Forensische Experten beschäftigten sich auf einem Presseworkshop der DGPPN in Berlin mit den Mechanismen, die hinter Radikalisierungsprozessen und schwerer Gewalttätigkeit stehen.

Hier einige wenige Auszüge aus den präsentierten Inhalten und Statements. Die Forensikern Dr. Nahlah Saimeh, Lippstadt, erläuterte, dass vor allem Persönlichkeitsstörungen und Persönlichkeitsakzentuierungen sowie wahnhafte Störungen und nicht zuletzt Adoleszentenkrisen ein Risiko für Radikalisierung und entsprechende Gewalttätigkeit bergen. Vor allem die dissoziale Persönlichkeitsstörung spielt bei einigen radikalisierten Tätern eine Rolle. Auch können, so Saimeh, bei schizophrenen Psychosen radikale Denkinhalte ein Bestandteil sein und zur Gewalttätigkeit beitragen. „Wissenschaft und Statistik zeigen aber, dass Terrorakte nur selten auf eine psychische Erkrankung im engeren Sinne zurückzuführen sind.“
Vielmehr bieten eine radikale Ideologie und Fanatisierung den passenden Überbau für die eigene Frustration, für Wut, Hass und die Faszination durch Gewalt. So konnte die forensische Psychiatrie bislang auch kein „psychopathologisches Musterprofil eines Terroristen“ erstellen, wenngleich persönlichkeitsstrukturelle Mechanismen existieren, die Radikalisierung und Extremismus befördern. Diese Menschen fühlen sich oft massiv benachteiligt und marginalisiert (obwohl sie aus allen Gesellschaftsschichten stammen) und sind daher empfänglich für Positionen, die ihnen eine gewisse Überlegenheit bieten. In diesem Kontext sieht Saimeh den Terror „als El Dorado für Tabuverlust, Verrohung und Sadismus“ – und religiös begründeter Terror „gewinnt durch göttliche Absolution“. Oft fehlt den Gefährdeten die Ich-Stärke, um in einer komplexen Gesellschaft Widersprüche, Unzulänglichkeit und Ambivalenz auszuhalten. Ob dies zu einer extremistischen Tat führt, hängt von situativen Faktoren ab, besonders vom „psychologischen Klima, in dem sie leben.“
Zur Attraktivität des sog. „Islamischen Staates" gerade für junge Menschen führt Saimeh an: „In der Adoleszenz formiert sich die Persönlichkeit neu, dies macht anfällig für radikale Ideen. Zudem sind Pubertät und Adoleszenz besonders narzisstische Lebensphasen, oft kombiniert mit dem Erleben des eigenen Gebremstseins und dem Wunsch, zu zeigen, was in einem steckt. Feindbilder und radikale Ideologien befriedigen diese Bedürfnisse. Die radikale Peer-Group dient u. a. als Gegenentwurf zum Elternhaus." JL
Kommentar

Wie DGPPN-Präsidentin Dr. Iris Hauth anhand des Germanwings-Absturzes darlegte, den der psychiatrisch behandelte Pilot absichtlich herbeiführte, werden psychisch Kranke zunehmend stigmatisiert. Dies könnte sich nach den jüngsten Anschlägen noch steigern. Daher stellt sie für eine verantwortungsvolle Berichterstattung klar, dass a) von psychisch erkrankten Menschen nicht per se eine Gefahr ausgeht und b) bei der überwiegenden Zahl von Gewalttaten psychische Erkrankungen keine Rolle spielen.

Quelle:

Presseworkshop der DGPPN „Gewalt und Terrorismus: das Unbegreifliche begreifen“, Berlin, 8. Juli 2016, und weitere DGPPN-Materialien

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