Die in diesem Jahr sowohl in Präsenz in Boston als auch virtuell durchgeführte 75. Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN) wartete erneut mit einer Flut an Sessions und Lectures auf. An den mehr als 400 Vorträgen nahmen etwa 14.000 Besucher teil – vor Ort oder live online. Mehr als 2.600 Abstracts und 2.000 Poster wurden präsentiert, so dass praktisch keine Nische neurologischer Spezialitäten unbesetzt blieb.
Teil II unseres Kongressberichtes umfasst Beiträge vom AAN zu Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) und zur Multiplen Sklerose (MS).
Maschinelles Lernen sagt PPMS-Progress voraus
Eine israelische Proof-of-concept-Studie wurde auf der Emerging Science Session vorgestellt. Sie zeigt, dass das Fortschreiten einer primär progredienten MS (PPMS) durch ein ‚Machine Learning‘ auf Grundlage von Deep-sequencing-Daten des Bluttranskriptoms gut vorhergesagt werden kann. Die Daten lieferten die Teilnehmer des Placeboarms der ORATORIO-Studie. Die Mehrheit hatte initial einen EDSS-Score < 5,5. Bei der Auswertung von zehn mit der Behinderung assoziierten Genen konnte das ML-Modell (nach vorherigem Training) das Fortschreiten der PPMS-Patienten, definiert als ein über zwölf Wochen anhaltender Anstieg des EDSS-Scores um ≥ 1 Punkt (12w-CDP) im Follow-up von 120 Wochen, zu 70,9 % korrekt prädizieren (Sensitivität: 55,6 %, Spezifität: 79,0 %). Die positiven und negativen Vorhersagewerte lagen bei 59,0 % bzw. 76,8 %. Bei Einbeziehung von zwölf Genen wurde das PPMS-Fortschreiten, definiert als eine Reduktion des Hirnvolumens um ≥ 1 % (120w-PBVC), zu 75,1 % richtig prädiziert (Sensitivität: 78,1 %, Spezifität: 66,7 %). Jetzt betrugen die positiven und negativen Vorhersagewerte 83,3 % bzw. 58,8 %. Eine Validierung in größeren Datensätzen vorausgesetzt, könnte diese Methode Grundlage einer Risiko-Nutzen-Berechnung und somit eine HIlfe bei den Therapieentscheidungen für PPMS-Patienten sein.
Teriflunomid reduziert das MS-Risiko bei Personen mit RIS-Diagnose
Ebenfalls auf der Emerging Science Session vorgestellt wurden Ergebnisse der doppelblinden Phase-III-Studie TERIS. Nach deren Resultaten kann Teriflunomid bei Menschen mit radiologisch isoliertem Syndrom (RIS) das Risiko für ein demyelinisierendes Ereigniss und damit die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen MS-Diagnose über zwei Jahren maßgeblich verringern. 89 RIS-Personen (Durchschnittsalter 39,8 Jahre, 71 % Frauen) waren zu einmal täglich 14 mg Teriflunomid oder Placebo randomisiert worden. Zum Zeitpunkt der RIS-Diagnose lag das Durchschnittsalter bei 38 Jahren. Während der zweijährigen Nachbeobachtungszeit traten 28 demyelinisierende Ereignisse auf, in der aktiven Behandlungsgruppe acht und in der Placebogruppe 20. Dies ent- spricht einer Risikoreduktion um 63 % (Hazard Ratio: 0,37; p = 0,018). Der Effekt war schon bereits nach ca. sechs Monaten zu beobachten. In der 2022 vorgestellten ARISE-Studie hatten 2 xtägl. 240 mg Dimethylfumarat das Risiko eines demyelinisierenden Ereignisses nach 96 Wochen gegenüber Placebo um 82 % (HR 0,18; p = 0.007) verringert. Das erhöhte MS-Risiko bei Personen mit RIS ist lange bekannt, doch noch wird diese Personengruppe nicht immunmodulatorisch behandelt. Die beiden Studien sprechen bei ihnen für eine frühe therapeutische Intervention.
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