Jahrestreffen der American Academy of Neurology, 17.-22. April 2021

Neuro-Depesche 5-6/2021

Neues zu Migräne, Epilepsie, Parkinson und mehr – und zu COVID-19

Beim komplett virtuell abgehaltenen Annual Meeting der AAN liefen die Veranstaltungen zeitgleich in mehreren Livestreams – und viele Aufzeichnungen, hunderte von Stunden, sind im nachhinein noch on demand verfügbar. Das weltweit größte „Treffen“ der Neurolog(inn)en umfasste erneut das denkbar weiteste Spektrum an Krankheiten wie Multiple Sklerose, Schlaganfall, Epilepsie, Parkinson und andere Bewegungsstörungen – und natürlich auch die neurologischen Aspekte einer COVID-19-Infektion.
Hier eine kleine Auswahl an Beiträgen mit breit gefächerten Themen, u. a. aus der Emerging Sciene und der Clinical Trials Session.
 
Orales Atogepant Migräne-prophylaktisch effektiv
Der oral einzunehmende niedermolekulare CGRP-Rezeptor-Antagonist Atogepant war in der doppelblinden Phase-III-Studie (n = 910) bei Erwachsenen mit 4 - 14 Migräne-Tagen pro Monat (MMD) prophylaktisch wirksam: Die durchschnittliche MMD-Reduktion vs. Baseline betrug nach 12 Wochen 3,69 für 10 mg, 3,86 für 30 mg und 4,20 für 60 mg Atogepant gegenüber -2,48 MMD unter Placebo (je p < 0,0001). Die Rate an Respondern (≥ 50 % Reduktion der MMD im Dreimonatsdurchschnitt) lag bei 56 % für 10mg, 59 % für 30 mg und 61 % für 60 mg versus 29 % unter Placebo (je p < 0,0001). Die Migräne-bedingten Beinträchtigungen wurden ebenso gebessert wie die Lebensqualität. Die häufigsten unerwünschten Ereignisse (UE) waren Obstipation (7 % - 8 % vs. 0,5 % unter Placebo) und Übelkeit (4 % - 6 % vs. 2 % unter Placebo). Schwerwiegende UE traten unter Atogepant 10 mg und unter Placebo bei jeweils 0,9 % der Teilnehmer auf, aber bei keinem in der 30 mg- oder 60 mg-Gruppe. Die Rate UE-bedingter Abbrüche betrug 2 % - 4 % unter Atogepant und 3 % unter Placebo. Es traten keine Zeichen einer Leberschädigung auf.
 
VNS-REHAB-Studie bei Schlaganfall-Patienten
Die VNS-REHAB-Studie umfasste 108 Personen, die als Langzeitfolge des mindestens neun Monate, im Durchschnitt drei Jahre zurückliegenden ischämischen Schlaganfalls unter einer Schwäche der oberen Extremitäten litten. 53 Patienten erhielten eine aktive VNS, gefolgt von einer sechswöchigen stationären und einer 90 Tage langen häuslichen Reha. 55 Patienten erhielten erst eine Schein-VNS, wechselten dann zu einer sechswöchigen Reha mit aktiver VNS und übten dann 90 Tage lang zu Hause. Zu allen Zeitpunkten war die Kombination der echten VNS und Reha in allen primären und sekundären Endpunkten signifikant überlegen. Im primären Endpunkt, der Verbesserung des Scores der Fugl- Meyer-Obere Extremität (FMA-UE) betrug die Responderrate (> 6 Punkte = minimale klinisch relevante Differenz) in der aktiven VNS-Gruppe 47 % versus 27 % in der Schein-VNS-Gruppe (p = 0,010). Nach Wechsel zur aktiven VNS profitierten diese Patienten mit einer ähnlichen Verbesserung der Armfunktion. Für das kombinierte Verfahren resultierte, wie die Autoren hervorheben, eine sehr vorteilhafte Number needed to Treat von 3 - 5.
 
Morbus Parkinson: THS über zehn Jahre wirksam
In der bislang längsten Follow-up-Studie zur tiefen Hirnstimulation (THS) des Nucl. subthalamicus (STN) und Globus pallidus internus (GPi) ergaben sich anhaltende Verbesserungen gegenüber Baseline nach zwei Jahren (n = 70 bzw. 85), nach sieben Jahren (n = 49 bzw 68) und nach zehn Jahren (n = bzw. 49). Die UPDRS Teil-III-Scores (Motorik) hatten bei Stimulation des STN abgenommen von 43,2 auf 27,7, 34,4 und 28,3 Punkte (je p < 0,001) und des GPi von 43,2 auf 25,8 und 35,4 (je p < 0,001) sowie – nicht-signifikant unterschiedlich – auf 34,0 Punkte (p = 0,10). Tendenziell hatte die STN-THS leichte Vorteile (p = 0,09). Der Tremor zeigte über die Zeit die größte Besserung, gefolgt von den Rigiditäts- und – etwa geringer – den Bradykinesie-Subscores. Letztere waren unter der STN-DBS nach sieben und zehn Jahren stärker gebessert als unter der GPi-THS (p = 0,03). Unabhängig vom THS-Target fanden sich u. a. auch in den UPDRS-I-, -II- und -IV- Scores sowie in der Reduktion der Parkinson-Medikation signifikante Langzeiteffekte. Die PDQ39-Gesamtscores dagegen wiesen nach sieben und nach zehn Jahren keine signifikante Verbesserung mehr auf. Angesichts des progredienten Charakters der neurodegenerativen Parkinson-Veränderungen sind die zehn Jahre anhaltenden Besserungen bemerkenswert.
 
PRX004 bessert neurologische und kardiale Symptome der hATTR
Präklinisch hemmte der monoklonale IgG1-Antikörpern PRX004 die Bildung von Amyloidfibrillen, neutralisierte lösliche Aggregate von nicht-nativem TTR und eliminierte unlösliche Amyloidfibrillen durch eine induzierte Phagozytose. In einer offenen Dosiseskalationsstudie der Phase I erwies sich PRX004 (0,1, 0,3, 1, 3, 10 und 30 mg/kg KG alle 28 Tage i.v.) nun bei 21 Patienten mit hereditärer Amyloid-Transthyretin(hATTR)-Amyloidose als sicher. Alle 21 durchliefen die Doppelblindphase (mit drei Infusionen), und 17 Patienten traten in die offene Studienverlängerung (LTE) (mit bis zu 15 Infusionen) ein. Bei insgesamt 233 Infusionen traten keine Todesfälle, schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse (UE) oder eine dosislimitierende Toxizität auf. Häufigste UE (= 10 %) waren Sturz, Anämie, Infektion der oberen Atemwege, Rückenschmerz, Obstipation, Diarrhö und Schlaflosigkeit. 3, 10 und 30 mg/kg KG PRX004 wurden als gleichwertig angesehen und gepoolt ausgewertet. Nach den vorläufigen Ergebnisse hatten alle sieben auswertbaren Patienten in Monat 9 gegenüber dem natürlichen Verlauf nach den Neuropathy Impairment Scores (NIS) eine langsamere Progression (+1,29 vs. +9 Punkte). Drei der sieben zeigten sogar eine NIS-Verbesserung gegenüber dem Ausgangswert um durchschnittlich 3,33 Punkte. Eine Verbesserung der linkventrikulären Funktion nach dem Echokardiographie- Parameter Global longitudinal strain (GLS) zeigte sich bei allen sieben Patienten, sie fiel bei den drei mit NIS-Besserung noch vorteilhafter aus (durchschnittlich -1,21 bzw. -1,51) .
 
Kognitiver Abbau: NfL besserer Marker als Tau
Sowohl Neurofilament light Chain (NfL) als auch das Gesamt- Tau-Protein sind potenzielle Biomarker für die Neurodegeneration, die mit ungünstigeren Veränderungen von Kognition, Kortexdicke, Hippokampus-Volumina sowie der Integrität der weißen Substanz (WM) und hyperintensen WM-Herden einhergeht. Beide wurden jetzt bei 995 nicht-dementen Teilnehmern der Mayo Clinic Study on Aging über median 6,2 Jahre alle 15 Monate bestimmt. Zu Baseline waren die sNfL-Werte in allen Analysen stärker mit den kognitiven Test- und Bildgebungsbefunden korreliert als die Gesamt-Tau-Werte. Die Kombination von erhöhtem NfL plus erhöhtem Gesamt-Tau zu Studienbeginn war im Querschnitt u. a. signifikant stärker mit einer schlechteren globalen Kognition und Gedächtnisleistung sowie mit der temporalen Kortexdicke verbunden. Im Längsschnitt jedoch verbesserte Gesamt-Tau den prognostischen Wert von NfL nicht maßgeblich. Diese Zusammenhänge wurden bei 387 nicht-dementen Teilnehmern der Alzheimer-Krankheits-Neuroimaging-Initiative (ADNI) mit einem medianen Follow-up von 3,0 Jahren repliziert.
 
Oraler DHODH-Modulator der 2. Generation
Die Hemmung der Dihydroorotat-Dehydrogenase (DHODH) ist in der Behandlung der MS ein etablierter Wirkmechanismus. Jetzt wurde mit Vidofludimus (IMU-838) ein selektiver oralen DHODHModulator der zweiten Generation in der randomisierten, placebokontrollierten Phase-II-Studie (EMPhASIS) mit 210 Patienten mit hochaktiver MS eingesetzt. Die einmal tägliche Einnahme von 30 bzw. 45 mg IMU-838 erwies sich im primären Endpunkt, kumulative Anzahl von Combined unique active(CUA)-MRT-Läsionen, in der ITT-Population als signifikant überlegen: Die CUA wurden nach 24 Monaten gegenüber Placebo unter 30 mg um 70 % (p = 0,0002), unter 45 mg um 62 % (p < 0,0001) reduziert. Zudem fielen die Serumwerte der Neurofilament-Leichtkette (sNfL) günstiger aus. Allerdings ergab die annualisierte Schubrate mit 0,39 bzw. 0,48 vs. 0,53 keinen Placebo überlegenen Therapieeffekt. Bei allgemein guter Verträglichlichkeit brachen nur 4,3 % unter Verum die Therapie ab (Placebo: 7,2 %). Den Autoren zufolge rechtfertigen die Ergebnisse eine Phase-III-Studie. JL
ICD-Codes: G20 , U07.1

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