8. Kongress der European Academy of Neurology (EAN), 25. – 28. Juni in Wien

Neuro-Depesche 9/2022

Neue Daten zu COVID-19, Parkinson, Schlaganfall, NMOSD, MS und mehr …

Der 8. Kongress der European Academy of Neurology (EAN) war der erste hybrid durchgeführte Kongress der Neurologenvereinigung. Mehr als 5.300 Fachbesucher haben den Weg in das Austria Center Vienna gefunden, etwa 2.700 haben virtuell teilgenommen. Unter dem Kongressmotto „Getting Evidence Into Practice“ wurden zahlreiche Erkenntnisse zu den Krankheiten des gesamten neurologischen Spektrums geteilt. Das Programm umfasste neben vier Plenaries zahlreiche Oral Presentations.
Aus dem umfangreichen Programm des viertägigen Kongresses hier einige der diskutierten Themen.
 
Gehäuft Alzheimer, Parkinson und Schlaganfall nach COVID-19?
Schwierig zu interpretierende Resultate ergab eine Auswertung der Krankenakten der dänischen Bevölkerung (Feb. 2020 bis Nov. 2021): Von 919.731 auf COVID-19 getesteten Personen hatten die 43.375 Viruspositiven ein 3,5-fach bzw. 2,6-fach erhöhtes Risiko für die Diagnose eines Morbus Alzheimer bzw. Parkinson sowie ein 2,7-mal bzw. 4,8-mal höheres Risiko für ischämische Schlaganfälle bzw. intrazerebrale Blutungen als die negativ getesteten Personen. Allerdings waren die Risiken für die meisten dieser Erkrankungen bei den COVID-19-Positiven nicht signifikant höher als bei den mehr als 8.000 Personen mit Influenza- Infektionen und ambulant erworbenen bakteriellen Pneumonien im Vorpandemie-Zeitraum, betonte Dr. Pardis Zarifkar, Kopenhagen. Lediglich das Schlaganfall-Risiko der COVID-19-Patienten war im Vergleich mit stationär behandelten > 80-Jährigen mit Influenza und Pneumonien 1,7-fach erhöht. Entscheidenden Einfluss könnten (neuro)inflammatorische Prozesse und prothrombotische Veränderungen haben, allerding ist auch „diagnostischer Bias“ nicht auszuschließen. Die Inzidenz anderer Erkrankungen wie Myasthenia gravis, MS, Guillain-Barré- Syndrom und Narkolepsie nach COVID-19, Influenza und Pneumonie waren hier nicht erhöht.
 
Mehr Kopfschmerzen bei Jugendlichen in der Pandemie
In einer multizentrischen türkischen Studie mit 851 Jugendlichen im Alter zwischen zehn und 18 Jahren berichteten 756 (89 %) während der pandemischen Home-schooling-Periode Kopfschmerzen, in 10 % dieser Fälle erstmalig und bei 27 % als Verschlimmerung vorbestehender Beschwerden. Bei 61 % waren die Kopfschmerzen stabil geblieben, und nur bei 3 % hatten sie sich gebessert. Die Betroffenen litten durchschnittlich acht- bis neunmal im Monat unter Kopfschmerzen, und 43 % nahmen zumindest einmal im Monat dagegen Schmerzmittel ein. Gegenüber der stabilen Gruppe waren Depressionen und Angstzustände bei den Befragten mit verschlimmerten Kopfschmerzen ausgeprägter. Dies betraf auch die Angst vor einer Ansteckung nach der Coronavirus Anxiety Scale. Mit Depression und Angst signifikant korreliert waren der Schweregrad und die Häufigkeit der neuen oder verschlimmerten Kopfschmerzen.
Die Befragten äußerten mehrheitlich Bedenken hinsichtlich der Qualität und Praktikabilität des Online-Unterrichts, und fast zwei Drittel (62 %) waren damit definitiv unzufrieden (21 % unentschlossen). Wie Dr. Ayşe Nur Özdag Acarli, Karaman/Türkei, betonte, ergab diese Studie im Gegensatz zu früheren Untersuchungen keineswegs eine Verringerung der Kopfschmerzen bei jungen Menschen. „Die Belastungen und der Druck der Pandemie haben ihren Tribut gefordert.“
 
Parkinson: Genvarianten bestimmen das Überleben
Wie lange jemand mit der Parkinson- Krankheit lebt, kann auf bestimmte Genmutationen zurückzuführen sein: Wissenschaftler aus vier Instituten in Paris hatten sich des Themas angenommen. Ihre retrospektive Datenauswertung von 2.037 Parkinson- Patienten ergab, dass jene mit einer LRRK2- oder PRKNMutation eine deutlich längere Überlebenszeit aufwiesen als Patienten ohne eine Genmutation (Hazard Ratio [HR] für Tod: 0,5 bzw. 0,42). Umgekehrt lebten Parkinson-Patienten mit SNCA- oder GBA-Mutation erheblich kürzer als diejenigen ohne Mutation (HR für Tod: 10,20 bzw. 1,36). Monogenetische Formen machen etwa 5 % aller Parkinson-Fälle aus.
Studienleiter Dr. Aymeric Lanore vom Paris Brian Institute an der Sorbonne zufolge ist dies die erste Studie, die die Überlebenszeiten von Patienten vergleicht, die diese vier für monogene Formen der Parkinson-Krankheit verantwortlichen Gene tragen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das kürzere Überleben von SNCA- und GBA-Patienten mit einem schnelleren motorischen Fortschreiten der Krankheit und einer früheren Entwicklung kognitiver Beeinträchtigungen zusammenhängen könnte. Diese Erkenntnisse könnten bei der Entwicklung neuer Medikamente helfen, die auf diese genetischen Varianten abzielen.
 
sNfL prädiziert die MS-Aktivität, sGFAP die Progression
Die Serumkonzentrationen an Neurofilament light chain (sNfL) und am Glial Fibrillary Acidic Protein (sGFAP) sind Marker für einen neuroaxonalen Untergang bzw. für eine Aktivierung von Astrozyten. Ein Team aus Boston prüfte deren prognostischen Nutzen bei insgesamt 259 Patienten mit progredienter MS. Die sNfL-Werte zu Baseline waren bei den Teilnehmern mit Krankheitsaktivität (neue ZNS-Läsionen oder Schübe) während der ersten zwei Follow-up-Jahre der median 7,6 Jahre währenden Nachbeobachtung signifikant höher als bei den nicht-aktiven MS-Patienten (p = 0,042). Hohe sGFAP-Werte zu Baseline gingen mit einem um 64 % erhöhten Risiko für eine Progression der MS, defniert als Erreichen einer nach sechs Monaten bestätigten EDSS-Progression (6-month Confirmed Disease Progression, 6mCDP), einher (adjustierte Hazard Ratio: 1,64, p = 0,006). Letzteres war auch der Fall für stark steigende sNfL-Konzentrationen (adj. HR: 1,46; p = 0,003) – unabhängig von den absoluten sNfL-Spiegeln. Damit könnten die beiden Serumwerte, so die Forscher, bei Patienten mit progredienter MS als Serum-Biomarker für die zukünftige MS-Aktivität bzw. -progression dienen.
 
Poststroke-Epilepsie nach Thrombektomie
Die Poststroke-Epilepsie (PSE) ist eine wichtige Langzeitkomplikation des Schlaganfalls. Daten zur Häufigkeit und zu Prädiktoren einer PSE nach einer mechanischen Thrombektomie (MT) sowie zum Wert von MRT-Befunden sind rar. Bei 348 Schlaganfallpatienten im medianen Alter von 67 Jahren (45 % Frauen), die sich 2011 bis 2017 in Österreich einer MT unterzogen hatten, wurde jetzt die Inzidenz einer PSE untersucht. In der Nachbeobachtungsdauer von 42 bis 125, median 76 Monaten, entwickelten 32 der 348 Patienten (9,2 %) diese Komplikation. Signifikante Risikovariablen dafür waren eine große Infarktausdehnung und Mikroblutungen, stärkster PSE-Prädiktor war ein Infarkt in der Area tempestas, einer funktionell definierte epileptogene Triggerzone im piriformen Kortex. Keinen signifikanten Vorhersagewert hatten dagegen klinische Variablen einschließlich des – teils umstrittenen – SeLECT Scores. Somit kommt der MRT, so die Autoren, für die PSE-Prognose eine sehr große Bedeutung zu.
 
Undiagnostizierte Schlaganfall-Risikofaktoren
Zuvor nicht diagnostizierte wichtige vaskuläre Risikofaktoren (Undiagnosed Major vascular Risk Factors, UMRF) für einen akuten ischämischen Schlaganfall und prognostische Variablen wurden in einer retrospektiven Analyse des Registers „Acute Stroke Registry and Analysis of Lausanne“ (ASTRAL; 2003 - 2018) untersucht. Unter 4.354 Patienten war bei 3.229 mindestens ein wichtiger vaskulärer Risikofaktor diagnostiert worden, bei 1.125 Patienten nicht. Unter ihnen wiesen 67,7 % (n = 784) mindestens einen UMRF auf. Diese neu diagnostizierte Schlaganfall-Hauptrisikofaktoren waren vor allem Dyslipidämien wie hohe Cholesterin- und Triglycerid-Spiegel (61,4 %) und Bluthochdruck (23,7 %). Es folgten Vorhofflimmern (10,2 %), Diabetes mellitus (5,2 %), eine Ejektionsfraktion des Herzens < 35 % (2,0 %) und eine Koronarerkrankung (1,0 %). Die multivariate Analyse ergab eine positive Assoziation u. a. mit einem jüngeren Alter, offenem Foramen ovale (PFO), Anwendung von Kontrazeptiva (bei Patientinnen < 55 Jahre) und Rauchen (bei Patienten ≥ 55 Jahre). Eine negative Assoziation fand sich für die Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern vor dem Schlaganfall und einen höheren BMI. „Vor unserer Studie gab es kaum klinische Informationen über die Häufigkeit, das Patientenprofil und die Schlaganfallmechanismen bei Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall mit zuvor nicht diagnostizierten großen vaskulären Risikofaktoren“, erläuterte Dr. André Rêgo, Lausanne. „Wir hoffen, dass diese Studie dazu beitragen wird, potenzielle Schlaganfallpatienten zu identifizieren, die in Zukunft intensivere Präventionstechniken und Überwachung benötigen.“
 
Sudomotorische Symptome bei NMOSD-Patienten
Dass sudomotorische Dysfunktionen und Symptome bei Patienten mit einer Neuromyelitis-optica-Spektrumstörung (NMOSD) häufiger als angenommen sind, belegt eine Studie mit 48 NMOSD-Patienten. Alle absolvierten den Composite Autonomic Symptom Score-31 (COMPASS-31) zur Bestimmung der sudomotorischen Symptomlast und den quantitativen sudomotorischen Axonreflextest (QSART). Deren Befunde wurden mit einer historischen Kohorte von 35 Patienten mit schubförmiger MS (RRMS) verglichen. Adjustiert auf Alter, Geschlecht und Krankheitsdauer fanden sich relevante sudomotorische Symptomen (definiert als ein Score > 0 in der sekretomotorischen COMPASS-31-Domäne) bei 26 der 48 Patienten (54 %). Eine sudomotorische Dysfunktion nach QSART lag bei 25 NMOSD-Patienten (52,1 %) vor – in mittlerer bis schwerer Ausprägung in 14 Fällen (29,2 %). Eine klinisch relevante symptomatische sudomotorische Dysfunktion war bei den NMOSD-Patienten (n = 8; 22,9 %) erheblich häufiger als bei den RRMS-Patienten (n = 1; 3 %; p = 0,028). JL
Kurz angerissen: Late Breaking News
Myasthenia gravis: In der Phase-III-Studie MycarinG (n = 200) war der monoklonale, den neonatalen Fc-Rezeptor (FcRn)-blockierende Antikörper Rozanolixizumab Placebo deutlich überlegen: Der Score der Skala Myasthenia Gravis Activities of Daily Living (MGADL) nach 43 Tagen als primärer Endpunkt wurde unter 7 mg/kg und 10 mg/kg Rozanolixizumab (s. c.) um 3,4 Punkte reduziert versus ca. -0,8 Punkte unter Placebo (p < 0,001). Häufigste Nebenwirkungen des Antikörpers waren Kopfschmerz, Diarrhoe, Fieber und Infekte. Late
 
Vissing J: Efficacy of rozanolixizumab in generalised myasthenia gravis: subgroup outcomes in the randomised Phase 3 MycarinG study. 28.8.2022
 
Demenz: Auf Basis der Longitudinal Ageing Study in India (LASI; n = 2500) unter Verwendung der Befunde des MMST und des Informant Questionnaire on Cognitive Decline in the Elderly (IQCODE) wurde der Test „Robust, Efficient, Affordable Diagnosis of Dementia (READi-Dem) entwickelt. Das durch „Machine Learning“ ermittelte Minimalset von nur 27 Fragen ließ sich für die Demenzdiagnose nach Clinical Dementia Rating Scale (CDR) eine Genauigkeit von 91 % (Spezifität: 90 %, Sensitivität: 92 %) erzielen. Damit eignet sich der READi-Dem vor allem sehr gut als Screening-Tool.
 
 Klar V: Got a minute? An ML-powered, web-interface tool for Robust, Efficient, Affordable DIagnosis of Dementia (READi-Dem); 28.8.2022
ICD-Codes: G20 , I64 , R51 , G36.0

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