European Academy of Neurology, 24.–27. Juni 2017 in Amsterdam

Neuro-Depesche 9/2017

Multiple Sklerose, Demenz und Migräne − Neues vom EAN

In Amsterdam trafen sich die europäischen Neurologen zu ihrem Jahreskongress − mehr als 6000 Besucher kamen. Das übergreifende Thema des 3rd Congress der European Academy of Neurology (EAN) war „Outcome measures in Neurology“. Die Sessions umfassten das gesamte Spektrum der neurodegenerativen, entzündlichen, traumatischen und übrigen neurologischen Erkrankungen

Hier eine kleine Auswahl an vorgestellten Studien und Erkentnissen.
 
Remyelinisierungspotenzial bei MS sehr unterschiedlich
 
Mittels einer Kombination aus PET und Magnetisierungs- Transfer-Ratio (MTR) wurde im Längsschnitt untersucht, wie häufig es in demyelinisierten Kortexarealen von MS-Patienten zur Remyelinisierung kommt. Der Index der kortikalen Remyelinisierung war in dieser Kohorte von 15 Patienten hoch variabel, er umfasste nach 2 bis 4 Monaten 12% bis 28% des zu Baseline demyelinisierten Hirnvolumens. Verbunden war er mit dem Index Remyelinisierung der weißen Substanz im 11C-PIB PET (p = 0,01). Die kortikalen Reparaturvorgänge korrelierten dabei negativ sehr eng mit dem Behinderungsgrad der Patienten nach EDSS (p = 0,001) und der Krankheitsschwere nach der MS Severity Scale (p = 0,001). Der kombinierte PET/MTR-Ansatz kann u. a dazu dienen, MS-Patienten für Studien zu remyelinisierenden Medikamenten nach ihrem Reparaturpotenzial zu stratifizieren.
 
Sexuelle Dysfunktion bei MS
 
Die enge Interaktion zwischen sexuellen Funktionsstörungen und Depression sowie Krankheitsschwere bei Frauen mit einer MS zeigt eine internationale Studie unter deutscher Beteiligung auf. 83 MS-Patientinnen im medianen Alter von etwa 36 Jahren nahmen teil. Unter sexuellen Dysfunktionen (nach dem Female Sexual Function Index, FSFI) litten 37 Patiententinnen (44,6%). Nach dem Beck Depression Inventory-V (BDI-V) waren 28 (33,7%) depressiv. Die FSFI-Werte waren mit den BDIV- Scores invers korreliert. Nach dem Multiple Sclerosis Intimacy and Sexuality Questionnaire (MSISQ-19) wurden die Dysfunktionen in primäre (durch zerebrale Läsionen), sekundäre (durch MS-bedingte körperliche Behinderung) und tertiäre (MS-bedingte psychische Probleme) eingeteilt. Unter primären litten 28/38 (73,7%), unter sekundären 32/38 (84,2%) und unter tertiären Störungen 22/38 (57,9%) Patientinnen. Die tertiären sexuellen Dysfunktionen waren mit den BDI-V-Scores korreliert und die sekundären mit der Behinderung nach den EDSS-Werten. Somit scheint die Depression die direkt der MS zugeordneten Funktionsstörungen bei MS-Patientinnen noch zu verstärken – möglicherweise, so die Autoren, aufgrund des bei Depression verringerten Selbstwertgefühls. Körperliche Behinderungen tragen dazu noch bei.
 
Verlauf bei Alzheimer-Frühform: Vaskuläre Risikofaktoren wichtig?
 
In der „Early onset Alzheimer’s disease cohort“ (COMAJ) suchten französische Forscher nach dem Einfluss vaskulärer Risikofaktoren (VRF) auf den Krankheitsverlauf. Von den 94 im Alter unter 60 Jahren erkrankten Alzheimer- Patienten wiesen 78% mindestens einen VRF auf. Übergewicht fand sich bei 51%, arterieller Bluthochdruck bei 41%, Hypercholesterinämie bei 41%, Rauchen bei 36% und Diabetes mellitus bei 4%. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer (52%) waren APOE4-Allelträger. Es fanden sich keine signifikanten Assoziationen zwischen den verschiedenen VRF und dem Verlauf − mit einer interessanten Ausnahme: Beim Follow-up nach zwei Jahren war eine Hypercholesterinämie mit positiven Entwicklungen assoziiert. Bei diesen Patienten verringerte sich der durchschnittliche MMST-Wert langsamer (-5 vs. -6,6; p = 0,048), und das Risiko für eine Ersthospitalisierung sowie für eine Pflegeheimeinweisung war jeweils signifikant geringer (p = 0,0223 bzw. p = 0,0249). Diese Zusammenhänge waren unabhängig vom APOE4-Allel-Status und einer Statin-Behandlung. Die Mortalität der Patienten wurde allerdings nicht verringert.
 
Nicht Übergewicht, metabolisches Syndrom verschlechtert Kognition
 
Dass Übergewicht nicht allein für Kognitionsverschlechterungen und Begünstigung demenzieller Erkrankungen verantwortlich ist, sondern dass es dafür zusätzlicher Risikofaktoren bedarf, zeigt eine israelische Studiena an 60 Übergewichtigen (BMI > 30). Die 30 Patienten, die zusätzlich zwei zum metabolischen Syndrom zählende Erkrankungen/Störungen wie Diabetes mellitus, Hypertonus etc. aufwiesen, waren nach dem Montreal Cognitive Assessment Score (MOCA) deutlich stärker beeinträchtigt als die übrigen 30 übergewichtigen Teilnehmer mit nur einer weiteren Komponente des metabolischen Syndroms: Eine Demenz lag bei ihnen zu 13% vs. 3% vor und eine leichtere kognitive Beeinträchtigung bei 51% vs. 7%. Kognitiv unauffällig waren in den beiden Gruppen demnach 36% vs. > 90%. Der MOCA-Score korrelierte mit den Blutdruckwerten und Leberzirrhose, stärkste Risikofaktoren waren allerdings Bauchumfang und Alter.
Als Ursache vermutet wird eine chronische Entzündung, die neuroinflammatorische und neurodegenerative Veränderungen auslöst. Jetzt sollte geklärt werden, so Radi Shahien, Safed/Israel, welche Komponente des metabolischen Syndroms beeinflusst werden muss, um die negativen Effekte auf die Kognition am effektivsten zu verringern.
 
Cannabis zur Migräne-Prävention?
 
In einer italienischen Studie war oral verabreichtes Cannabis bei 48 Patienten mit chronischer Migräne (CM) wirksam: Zunächst wurde ermittelt, dass die geeignete orale Dosis an 19%-igem Tetrahydrocannabinol (THC) 200 g beträgt. Hierunter sank die Schmerzschwere der Akutattacken um 55%. In der zweiten Studienphase zur Prävention erhielten 79 CM-Patienten über drei Monate täglich 200 mg der THC-Cannbidiol-(CBD)-Kombination oder aber 25 mg Amitriptylin. 48 Patienten mit Cluster- Kopfschmerz nahmen täglich ebenfalls diese THC-CBD-Dosis oder aber 480 mg/d des Kalziumkanalblockers Verapamil. Nach drei Monaten (und nach einem Follow up über weitere vier Wochen) war TCH-CBD dem Trizyklikum minmal überlegen (Attackenreduktion um 40,4% vs. 40,1%), während Zahl und Schwere gegenüber Baseline nur geringfügig abnahmen. Interessanterweise reduzierte THC-CBD in der Akutbehandlung der CM die Schmerzschwere um 43,5%, bei der Akutbehandlung des CK in ähnlicher Weise, aber nur in der Subgruppe der Patienten, die in der Kindheit unter einer Migräne gelitten hatten. Die übrigen erfuhren überhaupt keinen Therapieeffekt. Wie Maria Nicolodi, Florenz, anmerkte, „konnten wir demonstrieren, dass Cannabinoide in der Migräne-Prävention eine Alternative zu den etablierten zur Prophylaxe eingesetzten Medikamenten darstellt“. An THC-CBD-Nebenwirkungen traten vor allem Müdigkeit und Konzentrationsprobleme auf.
 
Deutliche GBS-Häufung bei Winter-Geborenen
 
Das Risiko, ein Guillain-Barré-Syndrom (GBS) zu entwicklen, scheint stark vom Geburtsmonat abzuhängen. Darauf weist eine in Serbien, Bosnien und Montenegro an fast 450 zwischen 2009 and 2015 geborenen Personen durchgeführte Studie hin. Die GBS-Patienten wiesen eine um 16% höhere Wahrscheinlichkeit auf, in den kälteren Monaten des Jahres geboren worden zu sein. Gegenüber der Bevölkerung war das GBS-Risiko der im Oktober geborenen Kinder besonders stark um 27% erhöht, das der im Juni geborenen war dagegen um 28% sehr deutlich niedriger. Mit der späteren Krankheitsschwere korrelierte der Geburtsmonat allerdings nicht, so Bogdan Bjelica, Belgrad. Eine Häufung im Winter fand sich im Übrigen auch für die akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (AIDP). Eine Saisonabhängkeit wird für 50 Krankheiten angenommen.
 
Smartphone-Tippen schädigt den Medianus
 
Jenseits aller Suchtaspekte kann eine intensive Smartphone-Nutzung auch neurologische Schäden verursachen: Immerhin tippen wir täglich durchschnitllich 2617 mal auf den Touchscreen, Intensivnutzer sogar mehr als 5000 mal – das macht etwa 2 Mio. Tipper pro Jahr. Türkische Ärzte stellten nun fest, dass sich durch diese „extreme Fingerakrobatik“ eine Schädigung des N. medianus einstellen kann: Die motorische Überleitung war bei 22 „Heavy-Usern“ um etwa 10% langsamer als bei 19 moderaten Nutzern, während die Kontrollgruppe von 22 Nicht-Smartphone-Handy-Telefonierern keinerlei Einschränkungen zeigte. Ähnliches belegen auch die Werte des Quick DASH (Disabilities of the Arm, Shoulder, Hand). Die Schädigung wurde durch den Vergleich der zum Tippen benutzten und nicht-benutzten Hand bestätigt: Der NLG-Unterschied betrug 12%. Die Autoren warnen unter anderem vor einem Karpaltunnel-Syndrom. JL
ICD-Codes: G43.9 , G61.0

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