20. ECTRIMS-Kongress in Wien

Neuro-Depesche 1/2005

MS - Krankheit mit vielen Gesichtern

Bei dem Begriff Multiple Sklerose taucht vor dem geistigen Auge wohl meist das Bild einer jüngeren Frau mit Sehstörungen, Parästhesien oder dezenten motorischen Ausfällen auf. Im Gegensatz zu diesem klassischen Patientenbild präsentiert sich so manche MS-Erkrankung als recht untypisch. Diesem Aspekt widmeten sich Experten auf dem ECTRIMS-Kongress 2004 in mehreren Vorträgen.

"Nicht jede demyelinisierende Erkrankung ist unbedingt eine MS", wies Prof. B. Weinshenker, Rochester, USA, auf eine der Schwierigkeiten bei der Differenzialdiagnose der MS hin. Vor allem beim ersten klinischen Ereignis sei die Abgrenzung der MS gegenüber anderen entzündlich-demyelinisierenden ZNS-Syndromen nicht immer leicht. In diese Gruppe gehören z.B. die akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM), die Neuromyelitis optica (Devic-Syndrom), die transverse Myelitis, Balo's konzentrische Sklerose und auch die hochakut und sehr rasch verlaufende Marburg-Variante, die in wenigen Monate zu einer hochgradigen Behinderung führt. Als sog. "Red flags", die an das Vorliegen eines atypischen Syndroms denken lassen sollten, nannte Weinshenker folgende Kennzeichen: keine vorangegangenen Ereignisse, untypische, nicht-neurologische oder auffällig schwere Symptome, begrenzter Befall, normgerechter oder atypischer Liquorbefund, isolierte oder konfluierende Läsionen im MRT sowie ein schlechtes Ansprechen auf Steroide. "Die Diagnose der MS kann sich auch als schwierig erweisen, wenn die Symptome bei Erstpräsentation atypisch sind", erklärte Prof. David Bates, Newcastle Upon Tyne, UK. So weisen 15-21% der Patienten zum Zeitpunkt der Erstpräsentation depressive Symptome auf, die im Übrigen - bei Patienten mit rechtstemporalen Läsionen - die Wahrscheinlichkeit des Übergangs eines isolierten Ereignisses in eine definitive MS wahrscheinlich erhöhen. Bei etwa 1% der Patienten beginnt die Erkrankung z.B. mit epileptischen Anfällen. Bei Krankheitsbeginn in fortgeschrittenerem Alter, wie er in etwa 4% der Fälle vorkommt (s. u.), kann sich die MS durchaus prima vista auch einmal als Demenz oder Restless-Legs-Syndrom präsentieren. Auch Neuropathien wie etwa eine glossopharyngeale Neuralgie sollten an eine MS denken lassen. Neben der nahezu unbegrenzten Palette an atypischen Symptomen kennt auch das zeitliche Muster des Auftretens Variationen, wie z.B. die eindrucksvolle paroxysmale Attacken zeigt. Eine anfallsartig auftretende MS-Symptomatik kann urplötzlich einsetzen, sehr kurz andauern und sich mehrmals täglich wiederholen. Paroxysmale Attacken sind meist von stereotypem Charakter und oft gezielt auslösbar. Ihre Pathogenese ist weitgehend ungeklärt. Wie eine von Dr. E. Moral, Barcelona, vorgestellte Studie an 1100 Patienten zeigte, leiden ca. 4% der MS-Patienten zwischenzeitlich an paroxysmalen Attacken. Dabei stellten sich anfallsartige Dystonien, Parästhesien, Trigeminusneuralgien, Ataxien, Dysarthrien und Diplopien als häufigste Formen heraus. Solche Beschwerden, die mitunter auch das klinische Bild der Erstpräsentation prägen können, sind im Verlauf eher "gutartig" und verschwinden oft spontan. In der Regel beginnt die MS im jüngeren Erwachsenenalter. Aber auch ein später Erkrankungsbeginn ist nicht als sehr selten anzusehen, wie eine von Dr. L. Alonso-Magdelana, Barcelona, präsentierte Studie an 1100 Patienten zeigt. In ihr trat die Erkrankung bei 4,6% der Patienten nach dem 50. Lebensjahr auf; bei 44 dieser 51 Patienten zwischen dem 50. und 59., bei sieben Studienteilnehmern erst nach dem 60. Lebensjahr. Diese Untersuchung zeigte auch, dass sich das klinische Bild einer spät beginnenden MS von jenem im jungen Erwachsenenalter unterscheidet. So ist z.B. die Geschlechterverteilung ausgeglichener, die Verhältnisrate von Frauen zu Männern beträgt nur 1,32. Die Patienten präsentieren sich überdurchschnittlich häufig mit motorischen Ausfällen, während sensible Störungen und Optikusneuritiden seltener sind. Der Liquorbefund war nur in 54% typisch und die evozierten visuellen Potenziale waren nur in 69% positiv. Insgesamt waren progrediente Formen häufiger als bei früherem Erkrankungsbeginn und auch die Zeitspanne bis zum Übergang des schubförmigen in einen progredienten Verlauf betrug nur etwa fünf Jahre. Typischerweise finden sich bei MS-Patienten im MRT multilokuläre, nicht konfluierende Herde in der weißen Substanz. In seltenen Fällen kann sich allerdings auch hinter einer als Tumor imponierenden Raumforderung eine MS-Läsion verbergen. In einem Kollektiv von 2700 Patienten mit klinisch sicherer MS identifizierte eine Arbeitsgruppe der Universitätsklinik Istanbul 13 Patienten mit diesem Erscheinungsbild. Diese leicht zu verkennenden Tumor-ähnlichen MS-Läsionen gingen zumeist mit einem schweren Krankheitsverlauf einher. Die Therapie der Wahl bei diesen Patienten sind hochdosierte Steroide, wobei das rasche Ansprechen die Diagnose einer MS-bedingten Läsion unterstützt. Bei nur unzureichend ansprechenden Patienten muss eine Biopsie erwogen werden. Die Beachtung dieser seltenen radiologischen Präsentation einer MS kann den Patienten unnötige Eingriffe ersparen. (AKr)

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