Futuristische Darstellung der menschlichen Gelenke

Deutscher Schmerz- und Palliativtag, 9. bis 13. März 2021

Neuro-Depesche 4/2021

Mehr Individualisierung statt Standardisierung

Der online gehaltene Schmerz- und Palliativtag der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) erzielte dieses Jahr mit knapp 4.000 Teilnehmer(inne)n einen Besucherrekord. An fünf Tagen wurden – parallel auf vier Kanälen – Themen wie Opioide und Cannabinoide in der Schmerzmedizin, Palliativmedizin, Kopfschmerzen und Schmerzmedizin unter Pandemie-Bedingungen erörtert. Ein Fokusthema war Psyche und Schmerz.
Hier aus dem umfangreichen und vielschichtigen Kongressprogramm eine notgedrungen sehr kleine Themenauswahl.
 
COVID-19-Pandemie belastet Schmerzpatienten
„Besonders chronischen Schmerzpatienten geht es schlechter, und der Therapiebedarf erhöht sich“, sagte Thomas Cegla, Wuppertal, zur Situation in der Pandemie. Viele Therapieangebote und die Teilnahme an Selbsthilfegruppen sind im Lockdown nur eingeschränkt bzw. nicht möglich, so der DGS-Vizepräsident. Laut einer Befragung haben bei 44 % der Patienten die Schmerzen zugenommen, und 70 % gaben eine Stimmungsverschlechterung an. Prof. Dieter F. Braus, Wiesbaden, zufolge „gibt es eine bidirektionale Beziehung zwischen COVID-19 und psychischen Erkrankungen“, die bei chronischen Schmerzpatienten ja vermehrt vorliegen. Einerseits erkranken sie häufiger an COVID-19, und andererseits entwickeln sie infolge der Infektion oft psychiatrische Symptomen wie Depression, Angst- und Schlafstörungen. Ein großes Problem stellt ferner das Long-COVID-Phänomen dar: Nach überstandener Infektion bleiben viele Patienten beeinträchtigt, am häufigsten durch eine Fatigue bei jedem Fünften (19,3 %). Für den Umgang mit Schmerzen und psychischen Problemen können digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) und Telefon/Videosprechstunden helfen, so Braus. In der Pandemie sollten die Patienten aktiver werden.
 
Noch stärker auf die Psyche achten
Für Diagnose und Therapie des komplexen bio-psycho-sozialen Phänomens Schmerz müssen wir ihn „in all seinen Facetten erfassen und dabei auch das soziale Umfeld und den Lebenshintergrund beachten“, betonte Tagungspräsidentin Silvia Maurer, Bad Bergzabern, U. a. befasste sich ein zusammen mit der DPGM geschaffenes Curriculum mit den Zusammenhängen von Schmerz und Depression, Angst sowie somatoformen und posttraumatischen Belastungsstörungen.
 
Flächendeckende, sichere Versorgung gefordert
Die Experten erneuerten die Forderung nach einer flächendeckenden schmerzmedizinischen Versorgung. „Basis dafür ist die rechtssichere Bedarfsplanung“, sagte Tagungspräsident Johannes Horlemann, Kevelaer, und mahnte an: „Uns geht es um eine sichere Versorgung in allen Schmerzindikationen.“ Gemäß Kongress-Motto sprach er sich gegen die Standardisierung als akademischer Selbstzweck aus, sondern plädierte angesicht der hochvariablen Manifestationen chronischer Schmerzen für eine individualisierte Schmerzmedizin im Praxisalltag, bei der auch Erfahrung und Intuition des Behandlers ihren Platz haben.
Viele der Vorträge sind (für registrierte Teilnehmer) noch bis 5. Nov. 2021 auf www.schmerz-und-palliativtag.de abrufbar. JL
Cannabinoid-Therapie im PraxisRegister- Schmerz ausgewertet
Auf einer separaten Pressekonferenz des Schmerz- und Palliativtages am 11. März stellte PD Michael A. Überall, Nürnberg, neue Daten des Deutschen PraxisRegisters-Schmerz (PRS) zu Dronabinol vor.
 
Das PRS umfasst (Stand 07.03.2021) 317.072 Behandlungsfälle, 215 Einrichtungen mit 774 Schmerzmedizinern, 804 Ärzten anderer Diziplinen und 2.562 nichtärztlichen Schmerzspezialisten. Um die Versorgung zu verbessern, wird die Phänotyp-basierte Risikoprofilierung chronischer Schmerzpatienten angestrebt.
Eine aktuelle PRS-Analyse von 1.145 Patienten (mittleres Alter 56,9 Jahre; 53,8 % Frauen) belegt für Dronabinol als Add-on bei chronischen Schmerzen eine klinisch relevante Wirksamkeit: Innerhalb von 12 Wochen sank die durchschnittliche 24-h-Schmerzintensität (nach dem Schmerzindex) bei 46,5 % der Patienten um mindestens die Hälfte. Andere Schmerzmittel konnten bei 51 % deutlich geringer dosiert und bei 7,8 % abgesetzt werden. Um mindestens die Hälfte gebessert wurden die Aktivitäten des täglichen Lebens bei 39 %, die Lebensqualität bei 31,4 % und der Schlaf bei 35,3 % der Patienten. Häufige Nebenwirkungen von Dronabinol wie Schwindel (14,7 %), Somnolenz (13,8 %), Fatigue (8 %), Gedächtnisstörung (6,2 %), Übelkeit (6,2 %) etc. nahmen im Laufe der Behandlung meist ab. Nur 161 Patienten (14,1 %) brachen die Behandlung nebenwirkungsbedingt ab, 96 (8,4 %) wegen mangelnder Wirksamkeit.
Wie Überall zum PRS ergänzte, wurde nun das patientenzentrierte, validierte und Smartphone-taugliche Zusatzmodul „Kopfschmerz/Migräne“ implementiert. Es enthält z. B. die Fragebögen MIDAS und HIT-6 zur Alltagsbewältigung und zu kopfschmerzbedingten Beeinträchtigungen der Patienten.
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