DGPPN-Kongress 2016, 23. bis 26. November 2016 in Berlin

Neuro-Depesche 1-2/2017

Kongress-Splitter aus der Welt der Psychiatrie

Beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) im November 2016 in Berlin wurden neue Leitlinien, ethische Fragestellungen und aktuelle Studienergebnisse diskutiert. Um die 10 000 Fachbesucher, vornehmlich aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, strömten in den CityCube.

Hier eine kleine Auswahl sowohl interessanter als auch praxisrelevanter Erkenntnisse, die in Berlin präsentiert wurden.
 
„Male Depression“ auch bei den Frauen?
 
Es gibt eine gute Evidenz für das Konzept der „Male-type Depression“ mit geringer Stresstoleranz, ausagierenden Verhaltensweisen, geringer Impulskontrolle, starker Irritabilität, Ruhelosigkeit, Unzufriedenheit, Substanzmissbrauch und antisozialen Verhaltensweisen. Anna Maria Möller- Leimkühler von der Ludwig-Maximilians- Universität in München fand bei der Validierung eines von ihr entwickelten 33 Items umfassenden Gendersensitiven Depressionsscreenings (GSDS-33), dass insbesondere die Faktoren Aggressivität und schlechte emotionale Kontrolle mit einem deutlich erhöhten Risiko für eine Depression einhergehen. Dabei ist diese Konstellation durchaus auch bei manchen Frauen zu finden. Als geschlechtsneutralen Begriff schlägt sie daher „externalisierte Depression“ vor.
 
Partnertötung nicht immer im Affekt
 
Die Auswertung von 84 Gutachterfällen zu Tötungsdelikten in und nach einer Partnerschaft ergab laut Norbert Leygraf vom Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg- Essen, dass es häufig Vorzeichen oder Risikofaktoren gibt, die auf die Deliktgefahr aufmerksam machen könnten. Bei acht Delikten war der Täter bereits früher wegen Körperverletzung oder versuchten Totschlags innerhalb der bestehenden Beziehung angezeigt worden, zehn weitere Täter waren vorverurteilt wegen Taten gegen Leib und Leben in oder nach Partnerschaften, weitere zehn wegen Gewaltdelikten außerhalb von Partnerschaften. Jede vierte Tat war demnach keineswegs ein plötzlicher Ausbruch in einem bis dahin gewaltfreien Leben. Zudem wiesen 38% der Täter psychisch relevante Störungsbilder auf (psychiatrische Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen und Sucht sowie mittelgradige Alkoholisierungen). Tötung im Affekt – postuliert als die Hauptursache bei Tötungen in oder nach Partnerschaften – betrifft demnach eher eine Minderheit dieser Delikte.
 
Psychopharma-Dosis wegen Kaffee erhöhen?
 
Koffein zählt zu den CYP1A2-Inhibitoren, daher kann es auch zu Interaktionen mit verschiedenen Psychopharmaka kommen. Dass dies durchaus praxisrelevant sein kann, zeigte Carina Rothammer von der Universität Regensburg in einer Auswertung der Konbest-Datenbank zum Koffeinkonsum bei psychisch Erkrankten im Jahr 2015. Von 6188 Patienten mit Wirkstoffkonzentrationsbestimmungen war für 3572 (58%) ein Koffeinkonsum dokumentiert. Ein erhöhter dosisbezogener Referenzbereich eines Phytopharmakons fand sich bei 27% aller Patienten. Bei 14% von ihnen war Koffein der einzige dokumentierte Hemmstoff, bei weiteren 25% fanden sich neben Koffein weitere Hemmstoffe. Koffein ist demnach nicht nur ein Genussmittel, warnen die Autoren, sein Konsum sollte auch hinsichtlich seines Interaktionspotenzials berücksichtigt werden.
 
Pflege: Es ist nicht alles schlecht
 
Über die Pflege von Angehörigen wird häufig im Zusammenhang mit einer extremen Belastung berichtet. Doch sie kann auch als etwas Positives empfunden werden. Nina Karg und Kollegen vom Universitätsklinikum Erlangen fanden gar nicht so selten ein Gefühl gewachsener Reife, eines zunehmenden Lernens, des Bewusstwerdens eigener Stärken, eine bessere Prioritätensetzung und einen als positiv empfundenen Perspektivwechsel. 87,1% aller 734 informellen Pflegepersonen gaben zumindest in einem dieser Bereich einen selbst empfundenen Benefit an. Eine gute Beziehungsqualität zwischen Pflegendem und Gepflegtem sowie ein erhöhter Umfang an Hilfeleistungen durch den Pflegenden im Alltag schienen das Erleben eines solchen Benefits zu unterstützen.
 
Patienten googlen ihre Therapeuten
 
Das Internet ermöglicht Psychotherapeuten das Einholen von Informationen über den Patienten, den Patienten aber auch die Suche nach Informationen über den Therapeuten. Christiane Eichenberg von der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud Privat-Universität Wien befragte dazu online (und nicht repräsentativ) 238 Patienten, die sich aktuell in Psychotherapie befanden oder in den letzten fünf Jahren psychotherapeutisch behandelt worden waren. In der Tat hatte fast die Hälfte (44,5%) Information über ihre Therapeuten eingeholt, die meisten online. Als häufiges Motiv nannten die Patienten Neugier (47,2%), den Therapeuten besser kennenlernen (36,8%) oder ein persönlicheres Verhältnis herstellen zu wollen (18,8%). Dem Therapeuten sagten die Patenten dies meist nicht. An die Möglichkeit, dass auch der Therapeut sich online über seine Pateinten informieren könnte, hatten neun von zehn Patienten noch nicht gedacht. Die meisten bewerteten dies negativ, vor allem wegen des Gefühls der mangelnden Kontrolle über die eigene Selbstoffenbarung im Internet.
 
DGPPN 2017 schon im Oktober!
 
In diesem Jahr wird die DGPPN nicht wie bislang im November tagen, sondern – gemeinsam mit der World Psychiatric Association (WPA) – schon im Oktober (08.–12. 10. 2017). FK

 

Pressekonferenzen

 
Aktuelle psychiatrische Fragestellungen waren auch Thema der DGPPN-Pressekonferenzen.
 
Sexualstraftäter psychisch krank?
 
Im Gegensatz zur landläufigen Annahme, dass Sexualstraftäter meistens psychisch krank sind, sprechen die wissenschaftlichen Erkenntnisse dagegen. Sexualstraftaten – am häufigsten sind Vergewaltigungen, sexuelle Nötigung, Exhibitionismus und sexueller Missbrauch von Kindern – sind nicht primär Symptome einer schweren psychischen Störung, können aber mit solchen zusammenhängen, so Dr. Nahlah Saimeh, Lippstadt, u. a. Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen. Doch die allermeisten Delikte werden von psychisch gesunden Tätern verübt. Die überwiegende Mehrheit der Sexualstraftäter ist voll schuldfähig und erhält daher eine zeitlich befristete Freiheitsstrafe. Dass Sexualstraftaten immer stärker zunehmen, ist ebenfalls unzutreffend: Nur rund 0,8% aller innerhalb eines Jahres verurteilten Straftäter haben Sexualdelikte verübt, es gibt keine signifikante Zunahme. Ein weiterer positiver Aspekt ist die Therapie: „Gerade bei Sexualstraftätern wurden hier in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht“, so Prof. Henning Saß, Mannheim, „die Rückfallquote ist deutlich gesunken und hat sich auf Einzelfälle verringert“, die leider teils schwerwiegend sind und ein entsprechendes Medienecho haben.
 
Big, big Data in der Psychiatrie
 
In der Psychiatrieforschung interessiert immer stärker das reale Alltagsleben. So besitzt inzwischen nahezu jeder Patient ein Smartphone, über das sich z. B. Affektlage und kognitive Aspekte messen und beurteilen lassen, erläuterte Prof. Andreas Heinz, Berlin. In den anfallenden riesigen Datenmengen lassen sich mit selbsttrainierenden Algorithmen ( „Machine learning“ oder „Deep learning“) Muster zur Identifikation psychischer Erkrankungen erkennen – und perspektivisch auch zur präziseren Auswahl von Therapien nutzen, erläuterte Prof. Andreas Meyer-Lindenberg, Mannheim. Demenzen könnten sich früh anhand von Bewegungsmustern erkennen lassen, manische Episode durch gehäuftes SMS-Schreiben und telefonieren. Und werden die Informationen dem Patienten selbst zurückgespiegelt, lässt sich gesundheitsförderliches Verhalten auslösen. Es existieren mehr als 1000 gesundheitsbezogene Apps – diese Massendaten wecken allerdings auch kommerzielle Begehrlichkeiten...
 
Internetsucht bei den „Millenials“
 
Die Zahl der täglichen Internetnutzer in Deutschland hat von 2014 auf 2015 um 3,5 Millionen auf 44,5 Millionen zugenommen, berichtete Prof. Falk Kiefer, Mannheim, und viele sind in Gefahr, diesen Konsum nicht mehr kontrollieren zu können. Studien zufolge kann die exzessive Internetaktivität mit einer mangelnden Entwicklung von Empathie und sozialen Kompetenzen bis hin zur Vereinsamung einhergehen. 2,4% der 14- bis 24-Jährigen („Millenials“) weisen eine internetbezogene Störung auf. Bislang ist der abhängige Internetgebrauch hauptsächlich in Form der Internetspielsucht (DSM-5: Internet Gaming Disorder) bekannt, doch auch die Nutzung sozialer Netzwerke, Shopping- und Pornographieportale etc. kann ein hohes, noch weitgehend unerforschtes Suchtpotenzial haben. Als Diagnosemerkmale nannte Kiefer u. a. Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen, Kontrollverlust, Fortsetzen der Aktivitäten trotz negativer Konsequenzen, Täuschen von Familienmitgliedern, Therapeuten oder anderen in Bezug auf das wirkliche Ausmaß der Online-Aktivitäten und Nutzung, um negativen Stimmungen entgegenzuwirken. JL

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