DGPPN-Kongress, 24.-27. November 2021 in Berlin

Neuro-Depesche 1-2/2022

Herausforderung: Digitalisierung in einer personenzentrierten Disziplin

Der Kongress der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) bildet als größter deutschsprachiger Kongress alle Facetten der Psychiatrie und Psychotherapie ab. Das Leitthema des als Hybridveranstaltung durchgeführten Kongresses 2021 lautete „Digitale Transformation und psychische Gesundheit“.
In 16 Lectures, rund 180 Symposien, 38 State-of-the-Art-Symposien, 18 Diskussionsforen und weiteren Formaten standen oft gesundheitspolitische, gesellschaftliche und kulturelle Themen im Mittelpunkt. Viele sind bis 31.5.2022 „on demand“ verfügbar.
 
Digitale Kommunikation
Das Feld der digitalen Anwendungen ist riesig, sagte Kongresspräsident Prof. Dr. Thomas Pollmächer, Ingolstadt, in seinem Eröffnungsvortrag. Die „digitale Kommunikation“ umfasst zum einen die elektronische Patientenakte, Klinikinformationssysteme und elektronische Ausweise und zum anderen die Telemedizin mit Smartphone-Apps und Videovisiten. Die Zahl der Videosprechstunden ist in der Corona-Pandemie von 117 im 4. Quartal 2019 auf 106.916 im 1. Quartal 2020, gestiegen, also um fast das 1.000-Fache. Für die Patienten war das ein Segen, betonte Pollmächer, allerdings sind die Vor- und Nachteile gegenüber persönlichen Sprechstunden bei weitem noch nicht erforscht.
 
Mögliche Probleme der Transformation
Im Hinblick auf die psychische Gesundheit nennt der Philosoph Prof. Thomas Metzinger, Mainz, exemplarisch einige Probleme der Digitalisierung wie Mediensucht, Online-Pornokonsum und Cybermobbing. Bspw. hat sich die Zahl an Schönheits-Ops bei den < 30-Jährigen zwischen 2016 und 2019 vervierfacht – für ihn Ausdruck zunehmender Körperbildstörungen („Body Dysmorphic disorder“). Nicht zuletzt wurde festgestellt, dass Schlafstörungen mit der abendlichen elektronischen Mediennutzung korrelieren und häufige Bildschirmnutzung bei Vorschulkindern mit strukturellen Hirnveränderungen einhergehen kann.
 
Verschwörungsanhänger trainieren?
„Nichts geschieht durch Zufall“, „nichts ist, wie es scheint,“ und „alles ist miteinander verbunden“ – diese drei Grundannahmen charakterisieren Verschwörungstheorien, schilderte Prof. Thomas Fuchs, Heidelberg. Hier gibt es Parallelen zu paranoidem Bedeutungserleben und Wahn. Allerdings besteht dabei eine Subjektzentrierung, während Verschwörungsanhänger ja größere Gruppen bilden. In einer Online-Untersuchung an > 500 Personen mit Neigung zu Verschwörungstheorien fand Prof. Stephanie Mehl, Marburg, gehäuft Denkstile, wie sie bei Patienten mit Wahnüberzeugungen im Rahmen einer psychotischen Störung vorkommen. Dazu wird z. B. die Tendenz gezählt, voreilige Schlussfolgerungen basierend auf geringer Evidenz zu treffen, der „Jumping to Conclusions (JTC)-Bias“. In der Psychiatrie eingesetzte kognitive Trainings oder kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen könnten auch bei der Prävention bzw. Reduktion von Verschwörungsglauben wirksam sein und z. B. in Informationskampagnen einfließen.
 
Forschungsplattform EBRAINS
Die Forschungsplattform EBRAINS wird auch für die Grundlagenforschung zur Schizophrenie eingesetzt, schilderte Prof. Katrin Amunts, Jülich. Z. B. wird bei einer computersimulierten Schreckreaktion untersucht, wie Transmitter und Rezeptoren auf die Signalübertragung einwirken. Mit diesem neuronalen Simulationsmodell soll der Einfluss von metabolischen Faktoren und Genvarianten, die für die Neurotransmission zentral sind, besser verstanden werden.
 
Medikamentenabhängigkeit in Deutschland
Prof. Ursula Havemann-Reinecke, Göttingen, schilderte, dass es laut Suchtsurvey 2016 hierzulande ca. 2,65 Mio. Menschen mit einer Medikamentenabhängigkeit oder einer medikamentenbezogenen Störung gibt – mit hoher Dunkelziffer. Damit ist ihre Zahl ähnlich hoch wie die der Alkoholabhängigen. Aktuelle Daten sprechen für einen zunehmenden Konsum hoch potenter Opioide – allerdings weit entfernt von der „Opioid-Krise“ in den USA. Andere Stoffgruppen mit hohem Missbrauchspotenzial betreffen Benzodiazepine, Cannabinoide, Stimulanzien sowie Nicht-Opi- oid-Analgetika. Auch bei den Gabapentinoiden – indiziert u. a. bei generalisierten Angststörungen – wurde ein Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial beschrieben, allerdings meist bei nicht-medizinischem Gebrauch. Pregabalin wird dabei ein höheres Abhängigskeitspotenzial als Gabapentin zugeschrieben, so Havemann-Reinecke. Sie rät zur kritischen Abwägung der Verordnung bei Suchtpatienten oder -gefährdeten. CG
Fazit
Kongresspräsident Pollmächer fordert, dass die digitale Transformation den Patienten zugutekommen muss und dabei die Mitarbeiter entlastet. „Dafür müssen wir uns als Vertreter von Psychiatrie und Psychotherapie aktiv einsetzen“. Wichtiger Maßstab dabei ist die Evidenzbasierung neuer Techniken. Ganz wichtig: Für diejenigen, die digitale Behandlungsmöglichkeiten nicht nutzen können oder wollen, dürfen keine Nachteile entstehen.

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