„Better explanations“

Neuro-Depesche 9/2019

Fehldiagnose MS bei jedem vierten Patienten?

In den diagnostischen MS-Kriterien wird stets angegeben, dass sich die jeweilige Symptomatik nicht durch eine andere Ursache besser erklären lassen darf. In welchem Umfang sich diese „Better explanations“ für MS-artige klinische Bilder im Behandlungsalltag tatsächlich finden lassen, wurde in einer Dreijahres-Längsschnittstudie untersucht.
Insgesamt 695 Patienten mit Symptomen, die auf eine MS hindeuten, wurden in einem der 22 Zentren der Rising Italian Researchers in Multiple Sclerosis (RIREMS)- Gruppe einer detaillierten Diagnostik unterzogen. Dies schloss kraniale und spinale MRT-Aufnahmen sowie Liquor- und Blutuntersuchungen ein. Drei Jahre später erfolgte eine klinische und radiologische Nachuntersuchung (1,5T-MRT).
Unter den 667 auswertbaren Patienten wurde gemäß den diagnostischen Kriterien 2017 eine MS bei 401 (60,1 %) und ein CIS bei 103 Patienten (15,5 %) diagnostiziert. Nach dem kompletten Work up wurde bei jedem vierten Patienten (n = 163; 24,4 %) eine „Alternativdiagnose“ gestellt. Am Ende waren ca. 15 % der Teilnehmer ohne eindeutige Diagnose geblieben.
Am häufigsten als MS fehldiagnostiziert worden waren unspezifische neurologische Symptome im Zusammenhang mit atypischen MRT-Läsionen. Dies betraf u. a. Läsionen vaskulären Ursprung (n = 40; 6,0 %), Migräne mit atypischen Läsionen (n = 24; 4,6 %) und eine Neuromyelitis optica (NMO, n = 14; 2,1 %). Andere Diagnosen (≤ 1,0 %) betrafen u. a. rezidivierende Optikusneuritis, Morbus Behçet, Sjögren-Syndrom und ADEM.
Die multivariate Analyse ergab für eine Fehldiagnose folgende unabhängige Prädiktoren: keine oligoklonalen Banden (Odds Ratio [OR]: 18,113; p = 0,001), atypische MRT-Läsionen (OR: 10,977 p < 0,001), keine räumliche Dissemination (DIS) (OR: 5,164 p = 0,002) und normale visuell evozierte Potentiale (OR: 3,550; p = 0,008). Anti-Aquaporin- 4-Antikörper dienten der NMO-Diagnose, andere Blutbefunde verfehlten die Signifikanz. HL
Kommentar
Die durch die aktualisierten McDonald-Kriterien immer früher mögliche Diagnose der MS erhöht auch die Gefahr von Fehldiagnosen. Die vorliegende praxisorientierte Beobachtungsstudie ergab eine sehr hohe Rate an Patienten mit verschiedenen neurologischen Erkrankungen, die als MS fehldiagnostiziert wurden. Als „Red flags“ dafür müssen fehlende IgG-OB, fehlende DIS, atypische MRT-Läsionen und normale VEP’s gelten. Jeder achte Patienten bliebe auch nach intensiver Untersuchung ohne Diagnose.

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