Cannabis-basierte Therapien

Neuro-Depesche 7-8/2022

Einsatz bei MS und anderen Krankheiten

In einer groß angelegten Übersichtsarbeit werden die Grundlagen der Cannabis-basierten Therapie und ihre Rationale bei der Multiplen Sklerose (MS), der Alzheimer-Krankheit und dem Morbus Parkinson detalliert beschrieben. Mit dem Fokus MS hier Auszüge zum Endocannabinoid-System und ihre Relevanz für die Erkrankung.
Das Endocannabinoid-System
Das Endocannabinoid-System (ECS) wird klassischerweise definiert durch die beiden spezifischen Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2, durch endogene Cannabinoide wie Anandamid (AEA) und 2-Arachidonoylglycerol (2-AG) sowie durch deren Synthese und Abbau durch Enzyme. So bauen die Monoacylglycerin-Lipase (MAGL) und die Fettsäure-Amidhydrolase (FAAH) 2-AG bzw. AEA ab. Endocannabinoide sind meist bioaktive Lipide, die aus der Spaltung von Membranfettsäuren und Phospholipiden hervorgehen und deren Spiegel daher durch Ernährung, Bewegung und verschiedene andere Lebensstilfaktoren moduliert werden können.
Das ECS ist involviert in die Regulierung mehrerer physiologischer Prozesse im ZNS, beeinflusst u. a. aber auch endokrine Funktionen und das Immunsystem. Neben mehr als 100 Phytocannabinoiden einschließlich Terpene enthält Cannabis sativa als pharmakologisch am besten untersuchte Wirkstoffe Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD), die einzeln oder kombinert auch in Fertigarzneimitteln verwendet werden.
 
THC- und CBD-Effekte
THC wird u. a. mit der Modulation schmerzbezogener Stimuli, Sedierung, Appetitsteigerung und Stimmung assoziiert und verfügt als Antioxidans potenziell über neuroprotektive und entzündungshemmende Eigenschaften. Die agonistische Aktivität von THC auf den CB1-Rezeptor entfaltet u. a. dessen psychotrope Wirkungen, während seine Aktivität am CB2-Rezeptor u. a. mit Schmerzlinderung korreliert und seinen entzündungshemmende Eigenschaften zugrundeliegt. Obwohl CBD kein direkter Agonist an CB-Rezeptoren ist, wirkt es doch als negativer allosterischer Modulator der CB1-Aktivität. Beim Fehlen einer psychotropen Wirkung werden CBD über die Modulation des ECS entzündungshemmende und immunsuppressive Wirkungen zugesprochen, die zum Teil seine therapeutische Anwendung begründen. Sowohl THC als auch CBD interagieren mit einer großen Anzahl weiterer Rezeptoren
 
Glutamat-Toxizität und Neuroinflammation bei MS
Neben den direkten immunologischen MS-Mechanismen kann eine Glutamat-vermittelte Exzitotoxizität durch Demyelrung, Axonschäden und neuronalen Tod zum Fortschreiten der Krankheit beitragen. Sie kann auch einen AMPA-vermittelten Zelltod von Oligodendrozyten und eine NMDA-vermittelte Schädigung der Myelinintegrität induzieren. Darüber hinaus korreliert eine übermäßige Mikroglia-Aktivierung mit einer vermehrten Freisetzung von reaktiven Sauerstoff- und Stickstoffspezies (ROS bzw. RNS) bei MS und ist besonders schädlich für Oligodendrozyten- Vorläuferzellen (OPC). Die Aktivierung von CB1- und CB2- Rezeptoren wird von den Autoren als essenziell für die Kontrolle der präsynaptischen Freisetzung von Glutamat in erregenden Synapsen und für die Modulation der von Gliazellen produzierten proinflammatorischen Zytokine beschrieben. Sowohl auf die Glutamat- Exzitotoxizität als auch auf die Mikroglia-Aktivierung kann die Cannabis-basierte Therapie einwirken.
 
Präklinische Erkenntnisse
Im MS-Tiermodell der experimentellen autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE) war die CB1-vermittelte Signalübertragung, die ja durch THC gefördert wird, wesentlich für die Kontrolle der Muskelspastik verantwortlich. In anderen tierexperimentellen Untersuchungen zur MS-Pathophysiologie wurde beschrieben, dass CBD sogar die Infiltration von T-Zellen in Rückenmark und Gehirn reduzieren und die Mikroglia-Reaktivität abschwächen kann. Obwohl CBD und THC in Studien auch jeweils allein in der Senkung der Scores von EAE-Mäusen wirksam waren, konnten nur isoliertes THC auf der einen und die Kombination aus CBD/THC auf der anderen Seite (in einer CB1-abhängigen Weise) zu einer langfristigen Wirksamkeit in Bezug auf die Besserung des EAE-Verlaufs der Tiere führen. Die 1:1-Kombination von CBD und THC verringerte darüber hinaus die Expression des proinflammatorischen Zytokins Tumor-Nekrose-Faktor-a (TNF-a) und erhöhten die Freisetzung des Brain-derived neurotrophic factor (BDNF).
 
Zusammenfassung der klinischen Studienlage
Eine Reihe klinischer Studien legt nahe, dass einige Cannabis-basierte Therapien vor allem die Spastik und begleitende Schmerzen bessern können. Dies wurde für die Therapie mit THC in einer Doppelblindstudie nachgeweisen. Für die Wirksamkeit eines Oromukosalsprays mit gleichen Anteilen von THC und CBD ist die Studienlage ungleich breiter. Diese Präparate stellen eine effiziente, gut verträgliche und sichere Option zur Behandlung der MS-bedingten Spastik dar und können auch komorbide Symptome wie Schmerz und Schlafprobleme bessern. JL
Fazit
Cannabis-basierte Therapien können bei der MS positiv auf die Glutamat-Exzitotoxizität und die Neuroinflammation und damit auf axonale Schäden und Nervenzelltod einwirken. Auf klinischer Ebene können MS-Patienten von THC- oder THC/CBD-Präparaten mit einer Besserung sekundärer MS-Symptome wie Schmerzen, Gangstörung, Schlafstörungen und allen voran der Spastik profitieren. Dies kann auch ihre Lebensqualität erhöhen.
Quelle: Paes-Colli Y et al.: Phytocannabinoids and cannabis-cased products as alternative pharmacotherapy in neurodegenerative diseases: from hypothesis to clinical practice. Front Cell Neurosci 2022; 16: 917164 [Epub 30. Mai; doi: 10.3389/fncel.2022.917164]

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