35th ECTRIMS, 11. bis 13. September 2019 in Stockholm

Neuro-Depesche 10/2019

Aufregende Entwicklungen und Studienresultate

Etwa 10.000 Besucher fanden sich Mitte September beim 35th Congress of the European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) in Stockholm ein. Neben Erkenntnissen zu MS-Risikofaktoren, Biomarkern, Schwangerschaft und anderen Themen bildeten etablierte und neue Behandlungsoptionen bei der MS – und auch zu den Neuromyelitis optica-Spetrums-Erkrankungen (NMO-SD) – einen Schwerpunkt.
Hier eine „bunte“ Auswahl diverser Themen, wie sie u. a. als „Scientific and Clinical Highlights“ hervorgehoben wurden.
 
Schwangerschaft bei MS
Neue Daten: In einer populationsbasierten Kohortenstudie des schwedischen Karolinska-Instituts wurden 2.604 Geburten von 1.773 Müttern mit MS ausgewertet, von denen 668 (30 %) drei Monate vor und/oder während der Schwangerschaft DMD ausgesetzt waren (sechs Monate für Rituximab): 560 Schwangerschaften unter Interferon-beta/Glatirameracetat, 41 unter Rituximab, 44 unter Natalizumab, 16 unter Dimethylfumarat und sieben unter Fingolimod. Insgesamt hatten die Neugeborenen der MS-Mütter gegenüber jenen gesunder Mütter ein erhöhtes Risiko für eine frühzeitige Geburt (adj. RR: 1,29), Frühgeburt (aRR: 1,21), 5-Minuten Apgar-Score von 0 - 3 (aRR: 3,00) und niedriges Geburtsgewicht für das Gestationsalter (aRR: 1,33). Das Risiko für perinatale Komplikationen war nicht erhöht. Bei höherem Behinderungsgrad der MS-Mütter war die Rate angeborener Missbildungen tendenziell höher (5,1 % vs. 3,3 %).
 
Ofatumumab in ASCLEPIOS I und II
Eines der Highlights zur MS-Therapie waren die Ergebnisse der ASCLEPIOS-I- und -II-Studie: In den doppelblinden Vergleichsstudien (zusammen n = 1.882) schnitt der noch in klinischer Erprobung befindliche Anti- CD20-Antikörper Ofatumumab (1 x monatl. 20 mg s.c.) in nahezu allen Studienendpunkten besser ab als das bewährte orale Teriflunomid, schilderte Prof. Stephen L. Hauser, San Francisco. Dies betraf die Reduktion der jährl. Schubrate (-50,5 % bzw. -58,5 %; je p < 0,001), Gd+-T1-Läsionen, neue/vergrößerte T2-Läsionen (p < 0,001) und die nach drei bzw. sechs Monaten bestätigte Behinderungsprogression (-34,4 %; p = 0,002 bzw. 32,5 %; p = 0,012), aber nicht die nach drei Monaten bestätigte Behinderungsverbesserung (bei 11,0 % vs. 8,1 % der Patienten; p = 0,094). Hauser attestierte Ofatumumab ein günstiges Sicherheitsprofil. Er hob hervor, dass das Medikament vom Patienten selbst injiziert werden kann.
 
Neuere DMD bei Kindern häufiger einsetzen?
In einer großen US-Kohorte pädiatrischer MS-Patienten wurde die Krankheitskontrolle mit neuen immunmodulierenden Medikamenten (Dimethylfumarat, Fingolimod, Natalizumab und Rituximab; n = 197) als Ersttherapie mit der unter Basistherapien (Interferon-beta, Glatirameracetat; n = 544) verglichen. Die neuen DMD waren in der Real World sowohl im Primärparameter der (Propensity-Score-adjustierten) jährlichen Schubrate überlegen (0,2, vs. 0,5) als auch in den sekundären Endpunkten neue/vergrößerte T2-Läsionen (Hazard Ratio [HR]: 0,52), medianer Zeitraum für die Entwicklung einer neuen Läsion (2,79 vs. 0,42 Jahre) und Risiko für Gadolinium-anreichernde T1-Läsionen (adjustierte HR: 0,38). Es traten keine anderen Nebenwirkungen auf als bei Erwachsenen, so Kristen M. Krysko, San Francisco, doch gerade die Langzeitsicherheit der neuen Medikamente müsse noch genauer untersucht werden.
 
Sind die Injectables out?
Eine Lanze für die Basistherapeutika IFNb und Glatirameracetat brach auf einer sehr gut besuchten Pro- und Kontra-Diskussion Magd Zakaria, Kairo. Gegenüber Gisela Kobelt, Stockholm, die ihrer Rolle gemäß argumentierte, dass die Injectables angesichts neuer wirksamerer Therapien obsolet seien, kritisierte er genau diese vermeintlich höhere Wirksamkeit: Die relative Risikoreduktion (RRR) fiele tatsächlich deutlich höher aus (rund 30 % vs. etwa 50 % - 70 % oder mehr), sei aber kein echtes Maß für die klinische Wirksamkeit. Die RRR als errechnete Größe führe – bei inzwischen veränderten MS-Studienpopulationen – in die Irre. Er stellte dagegen die absolute Risikoreduktion und vor allem die Number needed to Treat (NNT) als klinisch relevant heraus. In der Tat zeigen die frühen Studien z. B. für IFNb mit 2,3 - 3,4 günstigere NNT als die moderneren oralen Therapien mit 4,5 - 5,9. Letztlich könne die Wirksamkeit ohnehin nur anhand von Head-to-head-Vergleichen beurteilt werden, so Zakaria. Darüber hinaus zeichnen sich die Injectables durch ein hervorragendes Langzeitsicherheitsprofil aus, das eindeutig für ihren Stellenwert, auch im heutigen Behandlungsalltag, spricht.
 
AHSCT immer sicherer
Für eine eher breitere Anwendung der autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation (AHSCT) sprach sich Joachim Burman, Uppsala, aus. Seit der erstmals 1995 bei MS durchgeführten Therapie wurden bislang mehr als 2.500 Patienten in Europa mit der AHSCT behandelt. Wurden anfänglich nur therapieresistente progressive MS-Formen (mit enttäuschenden Ergebnissen) behandelt, verschiebt sich die Anwendung zur Therapie der RRMS. Die meisten Patienten benötigen nach der AHSCT keine weitere Behandlung, der Anteil an Patienten ohne Anzeichen von Krankheitsaktivität (NEDA) über fünf Jahre beträgt in jüngeren Studien konsistent 68 % - 70 % – und liegt deutlich über dem aktueller Therapeutika. In der Studie MIST lag die NEDA-3-Rate bei ca. 80 %, im Kontrollarm bei < 10 %.
Die Sicherheit hat sich enorm verbessert: In einer Metaanalyse betrug die behandlungsbedingte Mortalität bei nach 2005 durchgeführter AHSCT 0,3 %, vergleichbar mit anderen chirurgischen Eingriffen. Schließlich erscheint das Verfahren auch als kosteneffektiv: Die AHSCT ist etwa so teuer wie eine zwei- bis dreijährige Therapie mit modernen „Second line“-DMD.
 
Rauchen schlimmer als gedacht
Rauchen ist einer der am besten etablierten MS-Risikofaktoren. In den bevölkerungsbasierten schwedischen Fall-Kontroll-Studien EIMS und GEMS (7.883 Fälle, 9.264 Kontrollen) hatten Raucher ein um 60 % (Odds Ratio: 1,6) erhöhtes MS-Risiko. Sowohl die Dauer als auch die Intensität des Rauchens (besonders in den ersten zehn Rauchjahren) trugen unabhängig voneinander zum erhöhten Risiko bei, das Einstiegsalter dagegen nicht. Dabei wurde eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen kumulativem Zigarettenkonsum und MS-Risiko festgestellt, betonte Prof. Lars Alfredsson, Stockholm, besonders ausgeprägt bei den Männern: Bei ≥ 16 „Packyears“ war die MS-Gefahr fast verdreifacht. Die gute Nachricht: Der negative Effekt des Rauchens lässt unabhängig von der kumulativen Dosis mit der Zeit nach. Das MS-Risiko ist etwa ein Jahrzehnt nach dem Rauchstopp wieder auf dem Niveau von Nichtrauchern.
 
Höhere Vitamin-D-Dosen sicher
In einer randomisierten Doppelblindstudie bei 78 RRMS-Patienten erwies sich die Supplementierung mit hohen Dosen von Vitamin D3 während der Winterzeit als sicher (Poster P1066). Bei Einnahme von 4.000 bzw. 1.000 IE D3/d über vier Monate stiegen die 25(OH)D-Serumspiegel durchschnittlich auf sehr hohe 104,92 nmol/l bzw. 74,97 nmol/l (p < 0,0001). Nierenfunktionsparameter, Parathormon- und Calciumspiegel zeigten keine Auffälligkeiten. Während sich die Gehzeit (im Timed 25-foot Walk-Test) in beiden Gruppen vs. Baseline besserte (p < 0,05), kam es in der höher dosierten Gruppe (auf der visuellen Analogskala als Teil des EQ-5D-3L) zu einem signifikant besseren Gesundheitszustand (p < 0,05). Die Autoren empfehlen daher die höhere Vit.-D-Gabe.
 
sNfL schon Jahre vor der MS-Diagnose erhöht
Können die Serumwerte des Neurofilament- Leichtkette (sNfL), Biomarker für neuroaxonale Schäden, zur Identifizierung MS-gefährdeter Personen beitragen? In einer Fall-Kontroll-Studie wurden die Serumproben von 60 US-Militärangehörigen, die später an einer MS erkrankten, und von 60 Kontrollen, die gesund blieben, miteinander verglichen. Die sNfLWerte waren in der MS-Gruppe bereits sechs Jahre vor den ersten MS-Symptomen signifikant höher als bei den Kontrollen (16,7 vs. 15,2 pg/ml; p = 0,043). Der Unterschied nahm mit abnehmender Zeit bis zum klinischen MS-Beginn signifikant zu (p = 0,002) und lag bei Krankheitsbeginn bei median 45,1 pg/ml. Umgekehrt betrachtet ging ein Anstieg der sNfL-Spiegel in der präsymptomatischen Phase mit einem mehrfach höheren MS-Risiko einher (Rate Ratio [RR] pro Anstieg um ≥ 5 pg/ml: 7,50). Offenbar geht der klinisch manifesten MS eine mehrjährige prodromale Phase voran, in der bereits neuroaxonale Schäden auftreten. Inwieweit ein Screening bei Risikopopulationen (z. B. familiäre MS-Anamnese) sinnvoll sein könnte, ist offen. Übrigens ist die Bestimmung mittels Simoa-Assay mit 50 bis 100 Euro auch nicht gerade billig.
 
Inebilizumab-Studie gestoppt
Der nächste Antikörper gegen die NMO-SD ist nachgewiesen wirksam: In der doppelblinden, randomisierten Phase-II/III-Studie N-MOmentum an 99 Zentren in 25 Ländern wurden 230 Erwachsene mit der Diagnose NMO-SD (und mindestens einem akuten behandlungsbedürftigen Schub im letzten Jahr oder zwei Schüben in den letzten zwei Jahren) eingeschlossen. 94 % waren Aquaporin- 4(AQP4)-Antikörper-positiv. Die Patienten wurden im Verhältnis 3:1 randomisiert: An den Tagen 1 und 15 erhielten (i. v.) 174 den Anti-CD19-B-Zell-depletierenden Antikörper Inebilizumab und 56 Placebo. In der Verum-Gruppe erlitten 21 Patienten (12 %) einen Schub vs. 22 in der Placebo- Gruppe (39 %) (Hazard Ratio: 0,272; p < 0,0001). Die Number needed to Treat betrug vorteilhafte 3,73. Außerdem wurden die Behinderungsprogression um 63 % und aktive MRT-Läsionen um 44 % reduziert. Unerwünschte Ereignisse (UE) traten bei 125 (72 %) vs. 41 (73 %) auf, schwerwiegende UE bei acht (5 %) bzw. fünf Patienten (9 %). Wegen des eindeutigen Wirksamkeitsnachweises bei guter Verträglichkeit wurde die Studie vorzeitig gestoppt. Offen ist die Langzeitsicherheit und u. a. die Frage, ob Inebilizumab wirksamer ist als das bislang breit eingesetzte Rituximab. Letzeres dürfte nur einen Bruchteil der (noch nicht zugelassenen) neuen Antikörper-Therapie kosten. JL

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