90. Kongress der DGN, 20.–23. September 2017 in Leipzig

Neuro-Depesche 10/2017

Update des Neurologie-Spektrums

Zum 90. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Leipzig kamen rund 6000 deutsche und internationale Besucher. Die vier Tage waren dem Update des gesamten Spektrums der Neuromedizin gewidmet – von Schlaganfall über Demenzen, Bewegungsstörungen, MS etc. bis zu seltenen Erkrankungen.

In Europa leiden ca. 220 Mio. Menschen unter neurologischen Erkrankungen, die die Sozial- und Wirtschaftssysteme jährlich 336 Mrd. Euro kosten, etwa doppelt so viel wie der gesamte EU-Haushalt. Am teuersten sind Demenz (105 Mrd.), Schlaganfall (64 Mrd.) und Kopfschmerz (43 Mrd.). Damit verursacht die „neurologische Epidemie“ höhere Kosten als etwa Krebserkrankungen; die Förderung durch die öffentliche Hand beträgt aber nur einen Bruchteil der Mittel für die Krebsforschung. Angesichts „unserer immer älter werdenden Gesellschaft entsteht schleichend eine kritische Situation, der wir frühzeitig entgegenwirken müssen“, so DGN-Präsident Prof. Gereon R. Fink, Köln. Als weitere Problemfelder nannte er Defizite in der Erforschung und Umsetzung von Präventions- und Früherkennungsmaßnahmen sowie die mangelnde (politische) Bekämpfung des offensichtlichen Pflegenotstands.
 
Neue MS-Leitlinie
 
Der Vorstand des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS), Prof. Bernhard Hemmer, München, kündigte auf der DGN-Fachpressekonferenz die Aktualisierung der Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose“ (2014) an, die derzeit – erstmals zusammen mit Patientenvertretern – die DGN und das KKNMS erarbeiten. Die Erkenntnisse der MS-Forschung, die neuen Diagnosekriterien sowie die Therapie mit neuen Medikamenten wie Cladribin und das (voraussichtlich noch 2017 verfügbare) Ocrelizumab sollen in den neuen Diagnose- und Behandlungsstandards praxisgerecht abgebildet werden. Die MS-Leitlinie „wird sich an der Europäischen Leitlinie orientieren, die in diesem Jahr veröffentlicht wird“, erklärte Hemmer. Kritisch sah er die zunehmenden Kosten der MS-Immuntherapie. „Hier sind Anstrengungen notwendig, einer weiteren unkontrollierten Kostensteigerung entgegenzuwirken.“
 
Qualitätshandbuch beachten
 
Das KKNMS weist erneut auf die Bedeutung von sorgfältiger Indikationsstellung, engmaschiger Überwachung und konsequenter Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen hin. In jüngster Vergangenheit wurden schwerwiegende Nebenwirkungen unter Immuntherapeutika wie Alemtuzumab, Dimethylfumarat, Fingolimod und zuletzt Daclizumab berichtet. Durch ein sorgfältiges Sicherheitsmonitoring, so Hemmer, sind viele dieser Nebenwirkungen vermeidbar bzw. können frühzeitig erfolgreich behandelt werden. In diesem Zusammenhang verwies der Neurologe auf die 2017er Neuauflage des „Qualitätshandbuch Multiple Sklerose“, die auch unter www.kompetenznetz-multiplesklerose.de verfügbar ist.
 
Update zum Schlaganfall
 
Neue, zumeist noch nicht vollpublizierte Studien haben praktische Konsequenzen für das Management des Schlaganfalls. Einen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen gab Prof. Hans-Christoph Diener, derzeitiger Pressesprecher der DGN. Thrombektomie: Der Nutzen der mechanischen Thrombektomie 6 bis 8 h nach Symptombeginn ist durch sieben randomisierte Studien belegt. Nun zeigt die DAWN-Studie (Clinical Mismatch in the Triage of Wake Up and Late Presenting Strokes Undergoing Neurointervention With Trevo), dass das Zeitfenster größer als 8 h ist: Schon nach Einschluss von 206 Patienten, die median 13 h „nachdem sie zuletzt gesund gesehen worden waren“, wurde die Studie wegen eindeutig positiver Ergebnisse abgebrochen. Die Rekanalisierungsrate (TICIIb) betrug 84%, ein gutes Outcome (mod. Rankin-Skala: 0–2) erreichten 48,6% (vs. 13,1% bei den konservativ Behandelten; relative Risikoreduktion: 73%). Neben geringen Blutungsraten war auch die Sterblichkeit mit 18% in beiden Studienarmen identisch. Die Number needed to treat (NNT) betrug günstige 2,8.
Eine Metaanalyse der VISTA-Endovascular Collaboration ergab, dass der Erfolg der Thrombektomie weitgehend unabhängig vom Alter der Patienten und der Schwere des Schlaganfalls ist. „Die Zahl der Patienten, die nach einem Schlaganfall für eine Thrombektomie in Frage kommen, ist deutlich größer als bisher angenommen“, fasste Diener zusammen.
Thrombolyse: Eine norwegische Studiengruppe zeigte in der randomisierten Vergleichsstudie NORTEST, dass zwischen Tenecteplase (0,4 mg/ kg KG) und Alteplase (0,9 mg/kg KG) beim akuten ischämischen Insult keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich Wirksamkeit, Nebenwirkungen oder Komplikationen bestehen. Aufgrund der robusten Daten aus vielen großen randomisierten Studien bleibt Alteplase damit die Therapie der Wahl. Eine Auswertung des SITS-Registers (n = 6860) belegt den Nutzen der systemischen Thrombolyse nun auch bei Patienten mit leichten Schlaganfällen.
PFO-Verschluss: Zwei „spektakuläre“ Studien werden die Einschätzung zur Indikation für einen interventionellen Verschluss des offenen Foramen ovale (PFO) für die Sekundärprävention des Schlaganfalls wahrscheinlich ändern, so Diener, zumindest bei jüngeren Patienten mit kryptogenem Schlaganfall. In der französischen CLOSE-Studie (n = 663) war der PFO-Verschluss bei Schlaganfall-Patienten mit Vorhofseptumaneurysma oder großem Shunt- Volumen einer Behandlung mit Thrombozytenfunktionshemmern oder Antikoagulanzien deutlich überlegen (Hazard-Ratio für ein Schlaganfall-Rezdiv: 0,03; p < 0,001). In der US-Studie REDUCE (n = 664) lag die Odds Ratio für ein Rezidiv zu Gunsten des PFO-Verschlusses gegenüber der Gabe von Thrombozytenfunktionshemmern bei 0,23 (relative Risikoreduktion: 77%). Allerdings ist nicht klar, ob der PFO-Verschluss einer antithrombotischen Therapie ab einer bestimmten Altersgrenze nicht mehr überlegen ist.
Sekundärprävention: In der randomisierten Doppelblindstudie PRASTRO-I (n = 3747) wurde bei Patienten mit ischämischem Insult der noch patentgeschützte Thrombozytenfunktionshemmer Prasugrel mit dem preiswerten Clopidogrel verglichen. Im primären Endpunkt, der Kombination aus ischämischem Insult, Myokardinfarkt und kardiovaskulärem Tod, ergab sich „keine Nicht-Unterlegenheit“. Daher stellt Prasugrel, so Diener, zur Prävention nicht-kardioembolischer Schlaganfälle zumindest momentan keine Alternative dar.
 
Asthma-Mittel gegen Parkinson?
 
In einem neu entwickelten Zellmodell wurden 1126 Substanzen auf modifizierende Effekte auf die Transkription des a-Synuklein-Gens gescreent, schilderte Prof. Jens Volkmann, Würzburg. ß2-Rezeptor-Agonisten verringerten die Transkription signifikant, während Betablocker sie deutlich erhöhen. Bei Mäusen konnte dann ein ß2-Agonist die a-Synuklein-Expression in der S. nigra signifikant reduzieren. Dies harmoniert mit Daten des norwegischen Populationsregisters über elf Jahre, nach der Salbutamol das Parkinson-Risiko um 33% reduzierte, während Propranolol es signifikant erhöhte, ja verdoppelte. Demnach könnte, so Volkmann die Beeinflussung der a-Synuklein-Transkription mit recht gut verträglichen Asthma-Mitteln einen neuen, krankheitsmodifizierenden Ansatz darstellen.
 
Seltenen Krankheiten auf der Spur
 
Der Schlüssel zur Therape der 5000-6000 Seltenen Erkrankungen − bei etwa 80% ist das Nervensystem beteiligt − liegt oft in ihren genetischen Ursachen, erläuterte Prof. Christine Klein, Lübeck. Derzeit existieren nur für etwa 10% spezifische Behandlungsmöglichkeiten. Dank neuer diagnostischer Möglichkeiten wächst aber das neurogenetische Wissen rasant. Mit Einführung des „Next generation sequencing“ konnten die Aufklärungsraten bei seltenen erblichen Erkrankungen in den letzten Jahren von 5% auf ca. 40% erhöht werden. Als einen Durchbruch bezeichnete sie das Antisense- Oligonukleotid Nusinersen zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie (SMA). Auch für die Muskeldystrophie Typ Duchenne ist bereits eine Therapie auf der Basis von Antisense- Nukleotiden zugelassen, und derzeit laufen entsprechende Studien auch bei der Huntington- Krankheit. In Eisenach findet vom 29. 11. bis 1.12.2017 das Gründungssymposium der Deutschen Akademie für Seltene Neurologische Erkrankungen (DASNE) statt (s. Abb.).
 
ICD-Codes: I63.9

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