28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag, 22. –25. 03.2017, Frankfurt

Neuro-Depesche 4/2017

Evidenz UND die Erfahrung nutzen!

Die Forderung nach Evidenz-basiertem Vorgehen lässt sich in der Schmerzmedizin nur selten mit dem Wunsch nach individualisierter Therapie in Einklang bringen. Mit der systematischen Sammlung und Auswertung von Versorgungsdaten sowie der Vernetzung aller beteiligten Fachgebiete soll die Schmerzkompetenz gebündelt werden. So die auf dem 28. Deutscher Schmerz- und Palliativtag geäußerte Absicht.

Das Kongress-Motto lautete „Schmerzmedizin – Praxis und Theorie der Versorgung“. Hier einige Einblicke von der Pressekonferenz und anderen Veranstaltungen.
 
Netzwerke aufbauen
 
Um die Versorgung von Schmerzpatienten zu verbessern, plant die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) den Aufbau von Netzwerken zur noch individuelleren Behandlung. DGS-Präsident Dr. Gerhard Müller- Schwefe, Göppingen, sprach von rund 3,4 Millionen Schwerstkranken. Vernetzt werden sollen Hausärzte, Schmerzmediziner, Psychound Physiotherapeuten sowie algesiologische Fachassistenten, koordiniert durch einen Netzwerk-Manager. Voraussetzungen für die Umsetzung sind nach Müller-Schwefe Fortbildungen aller Beteiligten und politische Unterstützung. Zentrales Ziel sei es, „die medizinisch wissenschaftlichen Erkenntnisse in eine flächendeckende und wohnortnahe Versorgung zu bringen“. Er schätzte, dass sich „95% der Schmerzpatienten in der Nähe ihres Wohnortes gut versorgen ließen“.
 
Praxisnahe Leitlinien brauchen auch „interne Evidenz“
 
Für die tägliche Patientenversorgung werden Leitlinien immer wichtiger – und sind auch zunehmend rechtlich bindend. DGS-Vizepräsident Dr. Oliver Emrich, Ludwigshafen, verwies hier nicht nur auf das Arzthaftungsrecht, sondern auch auf für Patienten oftmals entscheidende sozialmedizinische Fragestellungen. Daher seien Leitlinien, die sich allein auf externe Evidenz randomisierter, kontrollierter Studien (RCT) stützen, nicht mehr zeitgemäß. So stufte er z. B. die nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz als „deutlich veraltet und praxisfremd“ ein. Das läge zum einen an fehlenden RCT auf diesem Gebiet, zum anderen daran, dass tradierte und neue Erfahrungen sowie die Patientenbedürfnisse in dem rein akademisch/methodisch orientierten Vorgehen systematisch vernachlässigt werden. Demgegenüber berücksichtigen die PraxisLeitlinien der DGS auch die „interne Evidenz“. In ihren neuesten Ausarbeitungen bieten sie wissenschaftlich fundierte und praxisnahe Orientierung zum Fibromyalgiesyndrom sowie zur Diagnostik und Behandlung von Patienten mit Opioidfehlgebrauch (siehe auch www.dgs-praxisleitlinien.de).
 
Als „Dauerbaustellen“ akzeptieren
 
Als bewährtes Beispiel für eine medizinische Leitlinie, in der die bestmögliche Evidenz aus der Literatur mit Expertenerfahrungen und Patientenbedürfnissen verbunden werden, führte Dr. Johannes Horlemann, Kevelaer, die DGS-Praxis-Leitlinie Tumorschmerz an. „Dabei verstehen sich die DGS-PraxisLeitlinien nicht mehr als ein abgeschlossenes Endprodukt“, so der Schmerzmediziner: „Sie sind eine Dauerbaustelle, an der transparent alle diejenigen, die in der Versorgung von Patienten mit ihren Schmerzerkrankungen beteiligt sind, teilhaben können.“
 
Datenflut soll Versorgungsforschung beflügeln
 
Ein wichtiges Element ist die „PraxisUmfrage Tumorschmerz“, bei der die DGS in Kooperation mit der Deutschen Schmerzliga (DSL) die Symptombelastung bei Patienten mit tumorbedingtem Dauer- und Durchbruchschmerz abfragt. „Für eine gute Schmerzversorgung ist es notwendig, die zugrundeliegenden Schmerzen kontinuierlich zu evaluieren, um sowohl den Behandlungsbedarf als auch die -intensität an das angestrebte Behandlungsziel anzupassen“, erläuterte PD Dr. Michael Überall, Nürnberg. Als wesentliches Ziel hierbei formulierte der DGS-Vizepräsident, „möglichst viele Daten zu sammeln – fachgebietsübergreifend von Ärzten über verordnete Therapien, aber auch von Patienten selber, die ihren subjektiven körperlichen und seelischen Zustand erfassen“. Sowohl die Generierung als auch die Beherrschung dieser ungeheuren Datenflut ist seinen Ausführungen zufolge erst durch die Fortschritte der Digitalisierung möglich geworden. Als Instrumente stehen dafür die – miteinander vernetzte – Patientenplattform „mein-schmerz.de“ und das DGS-Praxis- Register Schmerz mit seinem Kernstück iDocLive® zur Verfügung. Mit aktuell mehr als 146 000 eindeutigen Behandlungsfällen stellt das PraxisRegister Schmerz die weltweit größte pharmaunabhängige Datensammlung dar, betonte Überall. Unter Verwendung von nahezu 690 000 Komplexdokumentationen und 4,8 Mio. validierten Instrumenten umfasst der Datensatz mittlerweile mehr als 31 Mio. schmerzrelevante Parameter. Von diesen betreffen 52,3% Patienten mit Rückenschmerzen, 15,8% mit Gelenkschmerzen, 9,6% mit Kopfschmerzen, 9,5% mit Nervenschmerzen und 12,8% mit sonstigen Schmerzen.
 
Antibiotika gegen Rückenschmerzen
 
Last not least: Für ihre „revolutionären“ Studien zur Behandlung von Rückenschmerzen mit Antibiotika erhielt Dr. Hanne Albert, Odense, Dänemark, den DEUTSCHEN SCHMERZPREIS – Deutscher Förderpreis für Schmerzforschung und Schmerztherapie. MW
 
 

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